Als ich ein Kind war, konnte …

Als ich ein Kind war, konnte ich fliegen

Als ich ein Kind war, konnte ich fliegen. Mit den Jahren des Älterwerdens, diesem verhängnisvollen Schicksal, dem kein Mensch entgeht, der nicht das unverdiente Glück einer lebenslangen Kindheit geschenkt bekommt, verlor ich diese Fähigkeit mehr und mehr. Sie kehrte nur noch in seltenen Träumen zurück, meist als Warnung, so ich in Gefahr war, mein Eigenstes zu verlieren, oder, wenn ich im Geröll des Alltags versank und meine goldenen Finger von Asche grau wurden.

Aber in der Kindheit, diesen langen Jahren voller Geheimnis und Betrug, in denen es an den Abenden nie dunkel wurde, Sommerferien nicht enden wollten und meine Mutter, unter ihrer Dauerwelle gefangen, jeden Abend aufs Neue verzweifelte Stoßgebete gen Himmel sandte, des Inhalts, der Herr, gepriesen sei sein großer Name, möge dafür sorgen, dass ich endlich erwachsen werde, gelang es mir mit der Leichtigkeit einer Sommerschwalbe, mich vom Balkon im vierten Stock abzustoßen, über dem Schacht aus backsteinfarbenen Brandmauern, der unseren engen Hinterhof abschloss, zu schweben und dann hinabzutauchen, leicht kreisend, bis ich unten im Geviert aus festgetretenem Bauschutt und Erde neben der Teppichstange landete. Das war viel leichter und sicherer, als den langen Weg über das Treppenhaus zu nehmen, den Leib dieses gewundenen Lindwurms aus schwarzweiß geflecktem Stein hinab zu stolpern, jeder Schritt so laut hallend, dass er unweigerlich das Untier wecken musste, dessen Kopf in der Finsternis der Kellerräume ruhte und, sich träge räkelnd, auf die tappenden Füße unvorsichtiger Kinder lauerte.

Keiner meiner Spielkameraden machte mir das Fliegen nach, sie schauten lediglich in erstauntem Schweigen zu mir auf, wenn ich über ihnen schwebte, als habe die Luft ihre leichtfertige Durchlässigkeit verloren und sich in ein weiches Kissen verwandelt, auf dem ich ruhte und langsam tiefer sank, ähnlich den Rosinen und Mandeln, dem zu Würfeln gehacktem Orangeat und den abgeriebenen Zitronenschalen im goldgelben Teig von Mutters Rührkuchen. Und kaum setzte ich auf dem Boden auf, so wandten sie sich wieder ihrem Himmel und Hölle und Murmelspielen zu, als sei nichts geschehen und ich gar nicht vorhanden.

Das war natürlich auch besser so. Einmal hatte jemand gewagt, zu Hause staunend von meinen Flugkünsten zu berichten, was ihm eine prompte Ohrfeige mit nachfolgender Beschimpfung und der verächtlichen Aufforderung einbrachte, fortan keine Lügenmärchen mehr zu erzählen.

Erwachsene sind meist ahnungslos, sie liegen in ihren zufälligen Leben herum, wie schwere, plumpe Baumstämme, die nach dem Fällen zu Boden gestürzt sind und nun glauben, dass sie dort für immer ihren Platz haben werden, ohne zu ahnen, was für ein leichter Stoß ausreichen würde, sie aus dem Gleichgewicht und ins Rutschen und Gleiten zu bringen, um sie zu Tal poltern zu lassen. Ja, sie wissen nicht einmal, dass sie diesen gefällten Stämmen gleich sind, vermögen sich nicht an den Tag ihres Sturzes aus der Kindheit zu erinnern, denn sie glauben, dass das Erwachsenwerden ein langsamer, schrittweiser Prozess des immer weiteren Wachstums ist, dabei beginnt das Erwachsensein in dem Moment, da der blühende Baum der Kindheit mit seiner Blumen-, Frucht- und Dornenkrone gefällt zu Boden stürzt und seine Äste nicht mehr in den Himmel greifen können.

Die Orte, auf die sie gedankenlos ihre Füße setzen, scheinen ihnen immer für die Ewigkeit gemacht, und von der Liste der Wahrheiten, so unvollständig sie auch sein mag, meinen sie alle zu kennen, felsenfest. Dabei müssten sie nur ihre Arme ausbreiten und sich einen Moment besinnen, um ihre schweren, rostigen Erwachsenengedanken loszulassen, schon würden sie spüren, wie sie leicht und leichter werden und endlich gar zu schweben beginnen.

Zum ersten Mal war mir das Fliegen ganz überraschend gelungen, als meine Mutter mir eine Spinne ins Haar setzen wollte. Sie hatte das kleine Tier mit den haarigen Beinen gefangen, als sie mit all ihrem Übermut, der damals noch sprichwörtlich in der Familie war, im vierten Stock leichtfüßig auf dem Fensterbrett stand, um mit Essigwasser die Scheiben blank zu wienern. So sehr ich ihr glockenreines Lachen liebte, so sehr ängstigte mich zugleich doch die Vorstellung, Spinnen könnten in meinen Haaren Nester bauen, und so lief ich, um ihr und der Spinne zu entkommen, immer wieder um den Küchentisch herum, meine lachende Mutter kaum zwei Schritte hinter mir. Und ich wäre ohne Zweifel ihr Opfer geworden, wenn ich nicht unvermittelt zu schweben begonnen hätte, weiter und immer höher, bis nur noch die Zimmerdecke meinem fliehenden Aufstieg Einhalt gebot, aber längst und zum Glück außer Reichweite meiner Spinnen liebenden Mutter, die mir erstaunt nachsah, dann aber wohl beschloss, mich dort an der Zimmerdecke der Küche zu ignorieren. Warum einen Aufstand machen, mag sie gedacht haben, wenn man ihn zu sehr beachtet, wird es nur schlimmer.

Und so landete ich zögernd wieder, der Tag nahm weiter seinen gewöhnlichen Lauf, und ich blieb mit dem unguten Gefühl zurück, mich wie so oft daneben benommen zu haben. Falls sie es jemandem erzählt, dachte ich, wird sie es mit ihrem üblichen entschuldigenden Satz, aber so ist er eben, tun. Und wäre ich so unvorsichtig gewesen, sie darauf hinzuweisen, dass etwas Ungewöhnliches geschehen sei, dann hätte sie wohl nur gesagt, geh und wasch dir endlich die Hände, du Dreckspatz, so kommst du mir nicht an den Tisch.

Anfang des Romans: Der Traum des Hundes – Aus Krohnstedts Aufzeichnungen