Durch das Gitter gesprochen

zu Werner Söllners Gedichtband „Knochenmusik“
von Peter H. E. Gogolin

Nachdem ich Werner Söllners Gedichte erstmals gelesen hatte, kamen mir in den Wochen danach alle anderen Gedichte wie geschminkt und parfümiert vor.

Es war mir, als habe da ein Autor die Kruste aus sprachlichen Konventionen durchbrochen, unter der die wahren Worte sonst begraben liegen, sodass sie an die frische Luft kommen und durch ihre einfache Anwesenheit zeigen können, dass alle anderen, die sich da zuvor so aufdringlich getummelt haben, nur ihre armen Verwandten sind.

Söllner erreicht diesen Weg ins Offene selbst dann, wenn es wie in den Nachtgedichten seines Bandes »Knochenmusik« um den dunklen Moment geht, da uns zwischen Nacht und Morgen alles fremd erscheint und die Gewissheit, wer wir sind, zu schwinden beginnt.

Werner Söllner: »Knochenmusik«, Gedichte, editionfaust, Ffm, ISBN 978-3-945400-19-7,
72 S., geb., Fadenheftung mit Lesebändchen, 18,00 Euro

Jede Nacht, pünktlich
um drei, weckt mich
die Wahrheit.

Und ich erschrecke
davor, liege schlaflos im Dunkeln
und frage:

Ist es meine Wahrheit, vor der
ich erschrecke, oder ist es
die Wahrheit der anderen? Und welche
von beiden ist schlimmer?

Viele seiner Gedichte sind in einem Bereich des Übergangs angesiedelt, an der Schwelle; dort, wo der Verlorene noch für einen Moment das Vergehen anzuhalten versucht, indem er es benennt. Das ist Totensuche, wie alle wirkliche Literatur, auch Beschwörung wie in dem Gedicht:

»Über den Dächern von Amsterdam«.

In einer fremden Stadt
im Lande Nie
hat mich mein Vater besucht.
Ich hab ihn gerufen. Auf dem Dach
eine Taube, auf dem Fensterbrett die blinde
fremdelnde Katze, auf dem Tisch eine Tasse
Kaffee, Wolken aus Milch.

Er hat auf dem Korbstuhl
gesessen, zögernd und still. Ein bißchen
entfernt. Als sei er, wie früher, anderswo
zuhause. Und dort jemand anders. …

Dass wir wohl alle aus einem fremden Land kommen und in eines gehen, in dem wir jemand anders gewesen sind und sein werden, wird die Grunderfahrung des Lyrikers Werner Söllner gewesen sein. 1951 in Rumänien geboren, durfte er 1982 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen, nachdem er über viele Jahre vom rumänischen Geheimdienst Securitate drangsaliert und als Quelle benutzt worden war. Das war Missbrauch eines Dichters, der ihm untilgbar anhängt. Jeder Missbrauch erschafft eine Spaltung; die Person, die zu überleben versucht, und die Person, die als Missbrauchte zurückgelassen werden muss, sind untrennbar miteinander verbunden.

Vielleicht entsteht deshalb unter Lektüre seiner Verse auch immer wieder die Frage »wer spricht hier eigentlich?« Und je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, kann man Söllners Gedichte auch ganz anders lesen. Etwa wie in »Wir beide«

Wir beide auf dem Bett
im dunklen Zimmer. Du, ein waches Tier
mit einem Geheimnis. Und ich neben
dir, ein schlafendes Tier, wie ein
fremdes, ein unsagbar fremdes
Unglück, von Anfang
bis Ende.

Rasend schnell dreht sich
die Erde. Vielleicht schleudert es
uns irgendwann hinaus nach
irgendwohin, und wir finden
uns wieder. Zwei fremde Tiere
auf einem ganz anderen Stern.

Natürlich hatte ich »Wir beide« anfangs wie selbstverständlich als Geschichte einer zerfallenden Zweierbeziehung zu lesen versucht, als wüsste ich nicht schon längst, dass Ich immer ein Anderer ist, sodass es das »unsagbar fremde Unglück« dieser Verse gar nicht gebraucht hätte, um auch ein ganz anderes Bild zu zeigen.

Der Ton solcher Verszeilen ist nicht einfach ›dunkel und melancholisch‹, wie in der Rezeption von Söllners Werk mitunter geschrieben wurde. Das ist vielmehr existentiell und angesichts der Gefahr dem Schweigen abgerungen. Was geschehen ist, weiß der Dichter, kann wieder geschehen. Nichts ist unwiederholbar, heißt es deshalb mahnend in dem Gedicht »Korrigierter Entwurf«.


Schwester, nimm dich in acht!
Nichts ist unwiederholbar. Reich mir
das Schweigen, sprich durch das Gitter
zwischen den Zeilen, aber halte die Hand
vor den Mund. Ein einziges offenes Wort
und du verschwindest.
    Eingekesselt im Ich, …

Söllners Werk ist überschaubar geblieben, auch wenn er nach 1982 in der Literaturszene immer aktiv war. Und dass seine Stimme als Lyriker zählt, lässt sich neben Gedichtbänden bei Ammann (Der Schlaf des Trommlers) und Suhrkamp (Kopfland. Passagen) auch daran ablesen, dass er die Köln/Düsseldorfer Poetiklesungen ebenso abhalten durfte, wie die Frankfurter Poetikvorlesungen an der Goethe-Universität. Die Frankfurter Zeitschrift für Literaturkritik »DIE WIEDERHOLUNG« widmete Werner Söllner 2017 mit ihrem Heft 4 sogar einen eigenen Sonderband: »Es ist so dunkel, daß die Menschen leuchten – Zum Werk von Werner Söllner«.

Inzwischen ist er gewissermaßen »in Rente« gegangen, auch wenn es sowas wie einen Ruhestand für Autoren ja gar nicht gibt. Aber nachdem er acht Jahre lang als Leiter des Hessischen Literaturforums gearbeitet hat und bis 2017 den »Literaturboten« als verantwortlicher Redakteur betreute, wohl doch ein Einschnitt. Darf man gespannt sein, was danach kommt? Er schreibt zwar gegen Ende des Bandes »Knochenmusik«, der bisher letzten Sammlung:

Meine Haut
ist tätowiert von
innen.

Mit Bildern und Sätzen
von früher

Aber zugleich ist da auch ein Aufbegehren spürbar, etwas, das nach vorn will, selbst wenn es mit dem Richtig und Falsch im Leben nicht so einfach sein sollte.

Du sagst, ich soll es
richtig machen, ab heute. Du
sagst, es sei genug. Wenigstens
ab heute soll ich es endlich
richtig machen.

Weißt du, alles, was ich
falsch gemacht habe, war falsch,
weil ich es richtig machen
wollte. Alles und immer
nur richtig. Nach Vorschrift
von selbst.

Laß es sein, Liebste. Laß es
bitte sein. Nicht heute.
Laß mich bitte, nur
heute, das Richtige tun, auch
wenn es falsch ist.

Ich wünsche ihm, dass es gelingt.

Erstveröffentlichung auf ‚Cultureglobe – Kultur und Politik‘