Aus der Bibliothek der Erinnerungen

zu Ursula Stingelin: – »Bleischwer & Federleicht« Zeichnungen und Texte
von Peter H. E. Gogolin

Vor Jahren arbeitete ich mit Ursula Stingelin an ihrem ersten  Roman, der dann unter dem poetischen Titel »Der Flügelschlag des Bläulings« erschien. Ich war damals gleich überzeugt von dem Buch, weil mich die intensive Atmosphäre in Bann schlug und die plastischen Beschreibungen fesselten. Es war ein Buch, das sich auf der Grenze zwischen Realismus und Phantastik bewegte. Wobei man als Leser das irritierende Gefühl nicht los wurde, dass gerade die vermeintlich phantastischsten Elemente der Geschichte vollkommen real waren.

Ich war deshalb mehr als neugierig, als die Autorin jetzt ein neues Buch vorlegte, das erstmals auch Zeichnungen von ihr veröffentlicht.

Es ist ein auf den ersten Blick zwar schmales Werk, das es jedoch in sich hat und zu intimen Entdeckungsreisen einlädt. Denn die in Basel lebende Künstlerin Ursula Stingelin versammelt in »Bleischwer & Federleicht« aus Anlass des Geburtstags Ihres Verlages Bleistift-Zeichnungen und Texte, die ein ganzes Leben umfassen, es unter verschiedensten Gesichtspunkten auszuleuchten versuchen, ohne dass die Texte die Zeichnungen zu erklären oder gar zu kommentieren versuchen bzw. die Zeichnungen zu illustrierenden Zugaben der Erzähltexte werden. Nein, beides, die Bild- und die Textelemente, könnten auch jeweils für sich allein stehen. Doch bilden sie gemeinsam eine Einheit, durch die, wenn nicht das Wesen, so doch die Persönlichkeit der Künstlerin im Fortgang der Lektüre sichtbar wird.

Ursula Stingelins Bleistiftzeichnungen sind wie tastende Versuche, dem Formlosen, in das man geworfen ist, ob nun im Leben oder als Künstler vor dem leeren Blatt, eine Form zu geben, sich den Raum zu erobern, in dem etwas Geformtes entstehen kann. »Während die Hand sich vorsichtig durch den nachtblauen Raum tastet, schlängelt die Linie über den Boden, schreibt sie, verwandelt sich in Ariadnes Faden, der Hand und Hirn in die Wirklichkeit zurückführen wird. … Die Hand, die sich durch nichts ablenken lässt, zeichnet wie in Trance unbeirrt weiter und weiter.«

Zeichnung und Text evozieren einander, als führten die linke und die rechte Gehirnhälfte miteinander einen permanenten stummen Dialog. Die Stingelinschen Prosatexte sind dabei genau begrenzte Momentaufnahmen, die kurze Zeit Szenerien, meist familiäre Situationen, sichtbar werden lassen, scharf ausgeleuchtet von einem Suchscheinwerfer, der gleich wieder erlischt und die tastend zeichnende Hand in der Dunkelheit zurücklassen wird. Wohin geht es, woher kam ich, was ist mir begegnet, hat mich verletzt, gefesselt, in die Einsamkeit gestoßen? Wie habe ich überlebt, während der Tod ständig um mich war, wie das schwarze Bakelit-Telefon auf dem Flur, das jederzeit sein schrilles Klingeln anstimmen konnte.

Zu gern hätte ich meine drei Brüder kennengelernt. Die Winzlinge hatten sich von dieser Welt verabschiedet, noch bevor sie richtig angekommen waren. Es wurde wenig über die toten Kinder gesprochen, es dauerte Jahre, bis meine Schwester und ich davon erfuhren.

So erzählt Ursula Stingelin von der eigenen Geburt, ihrem auf die Welt kommen, das sie ebenso gut nicht hätte überleben können, bis zum Fall der Berliner Mauer. Jede Station dieses Erfahrungsweges, so inhaltsschwer, dass es anderen Autoren für einen ganzen Roman reichen würde. Aber das wäre ihr sicherlich nicht recht, würde es doch dem Bleischweren, das sie so federleicht erzählt, am Ende Recht geben. Mich hat deshalb die Lektüre ihres Buches an Hilde Domins Gedichtzeile »Ich setzte einen Fuß in die Luft. Und sie trug.« erinnert. Ich sehe sie nach meiner Lektüre weitergehen, bleischwer und federleicht, nur mit einem zeichnenden Bleistift als Stütze.

Ursula Stingelin: Bleischwer & Federleicht, Telegonos-publishing,
ISBN 9 783946 762362, D 19,90 Euro, CH 21,00 CHf

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