Am Beispiel der Dinge

Zwanzig Reisen in »Shakespeares ruhelose Welt«
Neil MacGregors Archäologie des impliziten Wissens

shakespearewelt
von Peter H. Gogolin

Wären wir nicht immer schon mit einem Vorwissen von uns und unserer sozialen Wirklichkeit ausgestattet, wir wüssten vermutlich nicht einmal, was wir mit einer roten Ampel anfangen sollten. Zum Glück sind wir keine Kaspar Hausers und schwimmen jederzeit in einem uns bekannten Ozean von Zeichen, Normen, Bedeutungen und sozialen Signalen aller Art, die uns überhaupt erst zu gesellschaftlichen Wesen machen und – im Falle, dass wir sie missachten – als ‚Anormale‘ deklassieren. Michel Foucaults Philosophie, die eine Archäologie des Wissens zum Ziel hatte, hat diesen Zusammenhang im historischen Wandel vor allem für das 18. und 19. Jahrhundert aufgedeckt. Fokussiert auf das 16.Jahrhundert Shakespeares hat nun Neil MacGregor, der ehemalige Leiter der National Gallery in London und jetziger Direktor des Britischen Museums, mit „Shakespeares ruhelose Welt“ eine kulturhistorische Studie vorgelegt, die durchaus als ein Werk im Geiste Foucaults verstanden werden kann.

Doch soll MacGregors Buch kein Werk der Philosophie und schon gar keine Arbeit für Fachleute sein. Der Museumsmann bringt in seinem bildreichen Werk vielmehr anschaulich und unterhaltsam die Dinge zum sprechen und grenzt sich damit zumindest implizit gegen Foucault ab, der ausdrücklich ‚Les mots et les choses‘, die Wörter und die Dinge im Blick hatte. „Mit Hilfe zeitgenössischer Texte, gelehrter und literarischer Schriften, schreibt MacGregor in seiner Einleitung, mag es uns gelingen, in diese … Welten zu reisen … Doch viele Menschen waren es nicht, die damals solche Werke der Literatur und Philosophie, der Wissenschaft und Religion gelesen haben … Und unter diesen Lesern wiederum waren ganz sicher nicht diejenigen, die die billigen Plätze im Theater füllten.“ Er bezieht sich deshalb bewusst nicht auf literarische Quellen sondern lässt Dinge sprechen, die dem Leser als historische Leitobjekte dienen können, um Zugang zum England des 16. Jahrhunderts zu finden.

Ob es nun eine Gabel aus Eisen ist, ein damals noch ganz ungewöhnlich modisches, seltenes Essbesteck, das teuer gewesen sein muss und das sein Besitzer stolz mit den Initialen A.N. verzieren ließ, bevor er es im ‚Rose Theatre‘ verlor, wo es 300 Jahre später im Schutt begraben gefunden wurde. Oder eine Silbermünze, ein Kelch, ein Stoßdegen, eine Mütze aus Wolle, ein Spiegel, eine Uhr oder der Koffer eines Hausierers mit Inhalt, MacGregor ist überzeugt, dass eine merkwürdige Kraft in den Dingen liegt. Und er unternimmt deshalb in seinem Buch „Vom Charisma der Dinge bewegt“ zwanzig Reisen in eine vergangene Welt.

Mit dieser vergangenen Welt ist freilich nicht die Welt des Adels und der Höfe gemeint, über die uns Historiker zumeist aufzuklären pflegen. Denn während in der Generation vor Shakespeare das Theater der Massenunterhaltung noch gar nicht zugänglich war und meist im Hause eines Adeligen oder gar im königlichen Palast stattfand, hatte es sich inzwischen kommerzialisiert und war allen Klassen zugänglich geworden. Die erste als Theater gebaute Spielstätte wurde 1576 in London eröffnet. Da war Shakespeare gerade mal 12 Jahre alt. Solche Theater gab es zu diesem Zeitpunkt auf dem Kontinent noch nicht.

MacGregors Reisen haben deshalb auch in der Hauptsache die vergangene Welt dieses neuen Publikums zum Ziel. Er hat nicht die Absicht, „uns irgendeinen bestimmten Heiligen oder Helden näher zu bringen, schon gar nicht der Gestalt im Zentrum des Geschehens selbst, William Shakespeare. … Stattdessen aber erlauben uns die Objekte in diesem Buch, an den Erfahrungen seines Publikums teilzuhaben – einige Tausend Männer und Frauen werden es gewesen sein, die damals, als Shakespeares Stücke zum ersten Mal aufgeführt wurden, die Theater des elisabethanischen und des jakobäischen London besucht haben. Für sie hat er geschrieben. Was war ihre Welt?“ Dass ihm die Beantwortung dieser Frage in beeindruckender Weise gelingt, ob er nun am Beispiel einer gefundenen Gabel die Essgewohnheiten im Theater wieder lebendig werden lässt oder Dr. Dees magischen Spiegel benutzt, um die Einflüsse zu beleuchten, die in Shakespeares Werk von der Geisterwelt und sonstigen übernatürlichen Wesen ausgehen, man denke nur an ‚Macbeth‘, den ‚Sommernachtstraum‘ oder Prosperos Anrufung der Geister im ‚Sturm‘, macht MacGregors Buch zu einer faszinierenden Lektüre.

Wie das im Einzelnen sogar für das Theater von heute fruchtbar werden kann, zeigt sich an seinen Ausführungen zur „Mütze eines Lehrlings“, die vor etwa 150 Jahren in Moorfields, London gefunden wurde und der er das 8. Kapitel seines Buches widmet. Diese Mütze erschließt einen ganzen Kosmos an inzwischen verlorengegangenen sozialen Differenzierungen, deren Aufdeckung ganz unvermutet dazu beiträgt, die vielen Theatermachern sicher bekannte Frage, ob Hamlet nun tatsächlich verrückt sei oder nur vorgibt, es zu sein, in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. MacGregor weist nämlich nach, dass es zwischen 1571 und 1597 ein Parlamentsstatut gab, das von Jungen über sechs Jahren verlangte, an Sonn- und Feiertagen eine wollende Mütze aufzusetzen. Die Kopfbedeckung machte soziale Unterschiede sichtbar und verstärkte sie zugleich. Mützenträger gehörten zu den niederen Schichten, liefen sie barhäuptig, verstießen sie gegen das Gesetz. MacGregor verweist auf Shakespeares Onkel Henry, der 1583, da er nicht bedeutend genug war, um den Rang eines gentleman zu beanspruchen, wegen eines solchen Vergehens bestraft wurde.

„Jedem in Shakespeares Publikum war das geläufig“, schreibt der Autor, „und jedermann in dieser Gesellschaft trug eine Kopfbedeckung dieser oder jener Art als Ausweis seiner sozialen Identität; wer sich daran nicht hielt, ließ befürchten, dass mit ihm oder ihr etwas ernsthaft nicht stimmte.“
Liest man mit diesem Wissen Ophelias Szene neu,

„Als ich in meinem Zimmer näht’, auf einmal
Prinz Hamlet – mit ganz aufgerißnem Wams,
Kein Hut auf seinem Kopf, die Strümpfe schmutzig
Und losgebunden auf den Knöcheln hängend …
… – so tritt er vor mich.“

so muss man MacGregor zustimmen, wenn er schreibt „Hamlet läuft ohne Kopfbedeckung herum, Ophelia registriert das, und sofort wird ihr (und mit ihr dem Publikum) klar, dass er nur verrückt sein kann oder sonstwie tief verstört.“

MacGregors Archäologie der Dinge fördert erstaunliche Einsichten zu Tage. Zugleich zeigt sie aber auch die Grenzen der Methode auf, denn die Mütze allein hätte uns sicher ihre Bedeutung in dieser Weise nicht enthüllen können. Das Wissen um das Parlamentsstatut von 1571 musste hinzukommen, womit wir wieder bei der schriftlichen Überlieferung wären. Wir brauchen beides, die Dinge und die Wörter, so vorhanden, für eine Geschichte des Wissens. MacGregors Buch ist eine wunderbare Quelle dazu.

 

Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt, C.H. Beck Verlag, 347 Seiten, geb., € 29,95

 Erstveröffentlichung in Glanz & Elend, Magazin für Literatur und Zeitkritik