Gottes Werk und Irvings Beitrag

»Ich sehe jeden verdammten Tag Dinge in meiner Fantasie, die schrecklicher sind als der 11. September.« (John Irving)

Peter H. Gogolin
über John Irvings neuen Roman »Letzte Nacht in Twisted River«

Erinnern Sie sich noch? „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. So erzählt es zumindest das erste Buch Mose. Danach begann dann sehr schnell der ganze Schlamassel, in dem wir heute noch stecken. Hätte die Bibel, dieser große Familienroman der Menschheit, der die katastrophale Geschichte unserer Fehltritte, bösen Absichten und Fluchten erzählt, einen einzigen Autor, so müsste es unweigerlich jemand wie John Irving sein. Jemand also, der so viel Phantasie und erzählerischen Wagemut besitzt, um eine im Paradies lebende Frau unter Zuhilfenahme eines Apfels von einer Schlange verführen zu lassen. Oder wie in Irvings gerade erschienenen Roman einen zwölfjährigen Jungen auftreten zu lassen, der eine nackte Indianerin beim Geschlechtsverkehr mit einer Bratpfanne erschlägt, um dann zu zeigen, dass aus diesem Jungen zwangsläufig ein Schriftsteller werden muss. Ich bin überzeugt, dieser hypothetische Autor der Bibel muss einen ähnlich ins Groteske verliebten Humor besessen haben wie der 1942 geborene John Irving, dessen inzwischen zwölfter Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ in der deutschen Übersetzung jetzt beim Diogenes Verlag erschienen ist.

Irving, Autor tragikomischer epischer Großwerke, die von skurrilen Begebenheiten nur so strotzen, wurde nach seinen drei nur mäßig erfolgreichen Romanen „Laßt die Bären los!“, „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“ und „Eine Mittelgewichts-Ehe“ international bekannt, als er 1978 den Roman „Garp – und wie er die Welt sah“ veröffentlichte. Der Erfolg von Garp war so groß, dass Irving, der bisher im Brotberuf als Englischlehrer gearbeitet hatte, sich fortan ausschließlich dem eigenen Schreiben widmen konnte. Entstanden sind dabei Werke, die sich auf geradezu detailverliebte Weise menschlichen Schicksalen widmen. Die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen erkundet er mit einer Schonungslosigkeit, die ängstliche Gemüter erschrecken könnte. Doch wird dies ebenso durch Irvings makaberen Humor aufgefangen, wie die meist überaus krass gezeichneten sexuellen Inhalte seiner Geschichten. In „Garp – und wie er die Welt sah“ z.B. besteigt Garps Mutter einen hirngeschädigten, sterbenden Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, um sich zu schwängern. Und die Irving-Fans lassen ihm solche Szenen nicht nur durchgehen, sie lieben ihn sogar gerade deswegen. Irving zeigt uns, was wir insgeheim schon immer vermutet haben, nämlich, dass die Welt ein Tollhaus ist und gerade diejenigen es darin am schlimmsten treiben, von denen wir es am wenigsten erwartet hätten.

„Letzte Nacht in Twisted River“ steht darin Irvings Welterfolg Garp in nichts nach. Ja, er übertrifft ihn sicher noch, zumindest wenn man es von der Komplexität der fünf Jahrzehnte umspannenden Handlung her betrachtet. Der Autor bekannte in einem Interview mit dem Sunday Times Magazin, dass er den Roman strukturell für das anspruchsvollste seiner Bücher halte. Das ist sicher richtig so.

Den Inhalt des Romans nachzuerzählen verbietet sich fast, zumindest wenn der Rezensent kein Sadist ist, der den Leser quälen möchte, indem er ihm vorab zu viel über das neue Buch verrät. Für einen richtigen Irving-Leser sind seine Bücher nicht einfach Bücher sondern Objekte der Begierde, deren erogene Zonen man selbstverständlich ganz allein aufdecken möchte. Darum hier nur so viel: Wenn die Geschichte im Jahre 1954 in einem Holzfällerlager in Coos County, New Hampshire beginnt, erleben wir den Tod eines „Engels“ alias Angel Pope, alias Angelù del Popolo, eines minderjährigen Holzarbeiters. 49 Jahre später, wenn der Roman in Ontario endet, wird Danny Baciagalupo, der Protagonist des Buches im Whiteout eines kanadischen Schneesturms endlich den „Engel“, und damit sein Glück, wieder finden, der ihn Jahre zuvor verlassen hatte. In der Lebensspanne dazwischen, deren Schilderung unter der Lektüre nicht eine Minute langweilig wird, erleben wir die Geschichte von Danny und seinem Vater Dominic, einem humpelnden Lager-Koch, dessen Liebe zu Rosie Calogero, seiner Großcousine und späteren Ehefrau, der Ursprung von allem ist. Ja, und natürlich die Geschichte des Holzarbeiters Ketchum, der beide während seines Lebens begleitet, da er sich durch einen Schwur an sie gefesselt fühlt. Wir erleben weiter eine Bratpfanne, die zweimal zur Verteidigung gegen Bären eingesetz wird. Wobei der zweite Bär kein Bär sondern Jane, die Geliebte von Dannys Vater ist. Wäre die Geschichte um den ersten Bären keine Lüge gewesen, so hätte der zwölfjährige Danny Jane alias den zweiten Bären in der verhängnisvollen Nacht vermutlich nicht mit der Pfanne erschlagen und damit die lebenslange Flucht in Gang gesetzt, die nach Jahrzehnten zum Mord an seinem Vater führen, sowie Ketchum zuerst die linke Hand und dann das Leben kosten wird. Und natürlich wäre Danny Baciagalupo ohne all dies niemals zu dem Autor geworden, als den John Irving ihn uns vorstellt, am Ende der Geschichte weltberühmt und ein alter Ego Irvings wie es deutlicher nicht hätte geschaffen werden können. Erlebt der Leser doch Danny Baciagalupo beim Schreiben des Buches, das er mit „Letzte Nacht in Twisted River“ in Händen hält. Am Ende, wenn sich der Kreis schließt, wird Danny genau den Satz schreiben, mit dem Irvings neuer Roman beginnt.

Thematisch werden Irvings treue Leser sicher vieles wieder erkennen. Das Motiv des werdenden Schriftstellers, als den Irving dem Leser hier den Sohn des Kochs Dominic Baciagalupo, vorstellt, wird unweigerlich an den zum Schriftsteller reifenden Garp von 1978 erinnern. Natürlich tauchen auch in Twisted River die Beziehungsschemata zwischen kleinen, schüchternen Männern und großen, dominierenden Frauen wieder auf. Und wenn das Motiv der allein erziehenden Mütter diesmal durch allein erziehende Väter abgewandelt wurde, so schlägt John Irving damit trotzdem sein bekanntes Grundthema an. Wuchs er doch selbst auf, ohne jemals seinen leiblichen Vater kennengelernt zu haben, da seine Mutter sich bereits vor seiner Geburt von dem Vater getrennt hatte, sich scheiden ließ, als ihr Sohn gerade zwei Jahre alt war, und dem Vater fortan jeglichen Kontakt mit ihm verbot. Dem Autor dies jedoch als Wiederholung autobiographischer Details anzukreiden, zielt zu kurz. Nicht nur ist Irvings erzählerischer Reichtum trotz dieser wiederkehrenden Motive viel zu groß, er weist sogar selbst auf diese zentralen Themen seines Schreibens hin. „… ich habe schon immer über Menschen geschrieben“, sagt er, „die mit irgendeinem Verlust leben müssen – ganz egal, ob sie ein Körperteil verloren haben, einen geliebten Menschen oder Kinder. Wenn es Themen gibt, die sich ständig wiederholen in fast all meinen Büchern, dann sind es die Themen Verlust und Gewalt, die bizarr und völlig unerwartet passieren. Ich sehe jeden verdammten Tag Dinge in meiner Fantasie, die schrecklicher sind als der 11. September.“

Aber vielleicht wurde ja Himmel und Erde doch nicht als erstes erschaffen. Es gibt noch einen anderen Auftakt der Schöpfungsgeschichte. Er findet sich im Johannesevangelium und beginnt mit der Behauptung „In principio erat verbum – Am Anfang war das Wort.“ Der Kosmos, dieses geordnete Ganze, das sich dem bloßen Chaos entgegensetzt, ist also aus Sprache geformt worden. Und dafür ist John Irving mit jedem seiner Werke ein Beleg. Doch stop, einen Unterschied gibt es da doch. Denn während der imaginäre Autor der Bibel sich ja bekanntlich die Frage gefallen lassen muss, warum all das Böse in der Welt ist und er nichts dagegen unternimmt, ist bei Irving auch das Böse notwendige Bedingung seines erzählerischen Universums. Und kein Leser wird die Lektüre eines seiner Bücher abschließen, der nicht am Ende eingesehen hat, dass alles, absolut alles einen Sinn gehabt hat und unverzichtbar notwendig war. John Irving weiß im Gegensatz zu Danny Baciagalupo, der dies erst lernen muss, nämlich sehr wohl, „dass es in einem halbwegs anständig geplanten Roman keine Zufälle gibt“. Vermutlich macht dies die Lektüre seiner Geschichten so befriedigend.

Erstveröffentlichung in: >>>>  Glanz und Elend, Magazin für Literatur und Zeitkritik