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Lästiger Neuanfang, lästiges Weitermachen

Dienstag, 02. April 2024, bei “Once upon a time – Far away in the south” von Charlie Haden, Dino Saluzzi, Palle Mikkelborg u. Pierre Favre

Die Liebste fragte gestern, während sie mir wie allabendlich den Verband wechselte, wie lange es damals gedauert habe, bis ich mich erholt hatte, sie erinnere sich nicht mehr. Mit damals meinte sie die Zeit nach der Operation im Jahr 2001, als man mir mit dem Nieren-Karzinom auch meine linke Niere entfernt hatte. Ich wurde damals direkt nach Ostern operiert, und wenn ich mich nicht allzu falsch erinnere, dann benötigte meine “Auferstehung” danach das ganze Jahr, da ich erstens mit meinem Tod gerechnet hatte und mein Körper zudem einen Gewichtsverlust von über 40 Pfund kompensieren musste. Ich habe dieses Jahr deshalb auch immer als mein persönliches 9/11 betrachtet, denn darauf lief es ja zu. Den Moment, in dem ich in dem vorderen großen Arbeitsraum der Glemsmühle stand und den Anruf meines Bruders D. entgegennahm, sehe ich noch bildhaft vor mir. “Hast du den Fernseher an?”, fragte er. “Nein, warum?” Ich war unwissend und von seiner Frage irritiert. “Weil wir im Krieg sind. Die USA werden angegriffen. Eben ist das Pentagon halb zerstört worden.” – Ja, das war in dem Jahr, als ich versuchte, das Laufen wieder zu erlernen.

Nimmt man es genau, so war es der Tiefpunkt meines Lebens, zu 9/11 war es sehr passend. Dagegen gehts mir gegenwärtig noch “gold”, wie Walter zu sagen pflegte, der 2001 noch lebte. Zwar habe ich in der Zeit, seit ich zuletzt hier schrieb, das war der 9. Februar, und heute, da ich mich dazu durchringe, wieder etwas zu schreiben, erneut eine Krebs-Operation hinter mich gebracht, ebenfalls ein Karzinom, aber mein Gewichtsverlust hält sich diesmal in Grenzen, sodass ich mich beim Blick in den Spiegel auf akzeptable Weise schlank finde. Andererseits befinde ich mich inzwischen tief in meinem 75. Lebensjahr, was etwas absolut anderes ist, als das 51. von 2001. Wie lange wird es also diesmal andauern? Ich vermute, es wird wieder das ganze Jahr brauchen. Das vor allem auch deshalb, weil mir das Leben und Weiterleben mittlerweile regelrecht lästig ist. Es fühlt sich für mich an, als trüge ich ein Paar zu enger Schuhe, die ich gern ausziehen würde. Und im Krieg sind wir natürlich ebenfalls wieder.

Nun, dass ist natürlich ganz und gar inakzeptabel. Und nicht nur, weil ich dann die Liebste allein lassen müsste. Oder weil meine Großmutter väterlicherseits Minuten vor ihrem Tod das Motto ausgegeben hat: “Egal, wie dreckig es einem geht, Hauptsache man lebt.” – und die Oma Gogolin wusste wirklich, wovon sie sprach, denn “dreckig” war es ihr gegangen, sehr.

Aber 2001 war noch etwas s e h r anders. Ich existierte nämlich als Schriftsteller nicht mehr. Elf Jahre zuvor, Januar 1990, war ich mit einer zerschlagenen Familie aus der Villa Massimo in Rom zurückgekehrt und hatte über Jahre gegen einen nicht zu bewältigenden Schuldenberg angekämpft. Ich hatte in der Zeit für den Film und den Funk gearbeitet, um den Kopf über Wasser zu halten, für ein neues Buch, um auf dem Markt sichtbar zu bleiben, war da keine Zeit geblieben. Dann kam der Krebs und danach sollte dieser Zustand noch ein weiteres Jahrzehnt so bleiben. Es gab mich schlicht nicht mehr, bis ich 2011 mit dem Roman “Calvinos Hotel” in Leipzig wieder auftauchte.

Heute ist das anders. Zwar kennt mich immer noch kein Schw…, aber darum ist es mir auch nie gegangen, Tatsache ist aber, dass ich inzwischen weit über ein Dutzend Bücher (hier ein paar davon) auf dem Markt habe. Und zur Herbstmesse wird mein Roman “Ein paar Dinge, die ich über mich, meine Eltern und Auschwitz weiß” erscheinen. Zusammen mit meinem Alter ergibt das ein Gefühl, dass ich meine Pflicht getan habe, sodass ich etwas loslassen kann. Mal sehen, ob noch etwas kommt, falls nicht, dann ist es auch gut, und ich kann mich meiner Genesung widmen.

Bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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