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Im Schlamm der eigenen Biographie? Oder im Märchenland der Kindheit?

Samstag, 20. April 2024, bei “Glamoured” und “Belly of the Sun” von Cassandra Wilson

Nachgeprüft habe ich es nicht, aber ich glaube, es war Vladimir Nabokov, der meinte, man solle sich hüten, zu sehr im Schlamm der eigenen Biographie herumzuwühlen. Das hat mir immer sehr eingeleuchtet. Andererseits war es eben auch mein vielgeliebter Nabokov, der die deutliche Aufforderung Sprich Erinnerung, sprich in die Welt sandte und selbst eindrucksvoll befolgte. Also was nun? Sollte man also die eigene Biographie doch nicht derart geringschätzen? Ich denke ja. Und dafür spricht meiner Ansicht nach nicht allein der ja immerhin offensichtlichen Umstand, dass man, je älter man wird, kaum noch etwas anderes hat. Die eigene Biographie und die Erinnerung daran ist schließlich, so schnöde es auch immer klingen mag, das, was vom Leben übrig bleibt.

Nun bin ich zwar auch nicht der Ansicht eines Kollegen, der sich schon vor langer Zeit zu der Erkenntnis bekehrt hat, dass jede Lebensäußerung – von der Morgenpfeife und dem ersten Espresso nach dem Aufstehen etc. bis zur bitteren Neige des letzten Glases in der Nacht, das mit alkoholisierter Melancholie getrunken wird – schon per se ein Roman oder doch wenigstens romanwürdig sei, sodass man es dringlichst festhalten und möglichst ohne Verzug veröffentlichen sollte, wobei man zu einer Art Aufschreibeautomat mutiert, der das, was der Normalmensch auf seine stümperhafte Art halt nur lebt, permanent in Schrift verwandelt.

Ich befinde mich wohl irgendwo dazwischen, will sagen, ich mag nicht für jeden Atemzug Hosianna singen, nur weil ich ihn getan habe. Zumal ich leider zu genau weiß, dass dieser Jubelschrei in Wahrheit ein Hilferuf ist. Aber ich denke doch, dass das eigene Leben legitimes Material für den Autor ist und sein muss, denn ein Schreiben ohne die Grundlage der persönlichen Erfahrung ist der Beachtung nicht wert. Dann könnte man das Feld der Literatur auch gleich für die Spintisierer freigeben, die Zauberschüler, Orks, Werwölfe und Vampire durch das stillgelegte Hirn ihrer Leser*innen toben lassen.

Nun habe ich trotz allem immer fiktiv geschrieben, abgesehen vom Rom-Tagebuch »Kein Jahr der Liebe« von 2020 und dem biographischen Roman »Ein paar Dinge, die ich über mich, meine Eltern und Auschwitz weiß«, der im kommenden Herbst zur Messe erscheinen wird. Alle meine anderen Romane sind fiktive Texte, meine Erzählbände ebenso. Aber wenn damit alles gesagt wäre, dann müsste ich diesen BLOG-Artikel nicht schreiben, denn ich arbeite gegenwärtig an einem Buch, das beides tut: Die Erinnerung sprechen lassen und doch die Geschichte, die erzählt wird, neu zu erfinden unternimmt. Es wird etwas werden, was ich von der Form her noch nie versucht habe, ein Roman in Erzählungen nämlich. Dieser Roman wird den Titel »Das ferne Land« tragen, also den gleichen Titel, den die mittlere Erzählung im Erzählband »Morgen ist ein anderer Tag« trägt. Dort ist sie das Rückgrat des Erzählbandes, hier ist sie der Mittelteil des Romans in Erzählungen, den sie angeregt hat. Der Zusammenhang zwischen Erzählung und Roman ist die Kindheit.

Kindheit, dieses Märchenland
voller Wunder und Betrug.

Was ich dem Roman als Motto vorausgeschickt habe. Aber es wird eben kein autobiographischer Bericht über die Kindheit, sondern eine fiktive Kindheit, eine neu erfundene Kindheit, eine Phantasiereise zu Orten der Kindheit, von denen ich sonst niemals hätte erzählen können. Das ist der hauptsächliche Sinn dieses Buches, für das ich eine Menge alter Notizbücher durchsuchen muss, siehe oben. Außerdem kommt für mich der wichtige Umstand hinzu, dass ich mit diesem Roman das Schreiben in Verbindung mit der eigenen Biographie abschließe. Danach sollen nur noch historische Romane über Jesus Christus und die Spätantike bzw. die Zeit des frühen Christentums erscheinen, vermutlich insgesamt drei Projekte, aber das angesichts meines Alter schon eine im Grunde ungehörige Spekulation. Na, schaun wir mal, zumindest recherchiere ich bereits seit dem Beginn des vergangenen Jahres dafür; sehr spannende Arbeit.

Vor meinem Arbeitszimmerfenster wechseln sich Regenschauer mit prächtigem Sonnenschein ab. Also alles wie im richtigen Leben.

Ich wünsche Ihnen, dass der Sonnenschein überwiegt
und dass Sie glücklich bleiben, Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

4 Kommentare

  • Susanne Welp

    Es gibt bestimmt Biographien, die erzählenswerter sind, als andere. Aber da immer alles, was erinnert wird, subjektiv ist, kann man sicher nie eine objektiv “wahre” Biographie nachlesen. So ist denn alles Geschriebene eine Art gesiebter und subjektiv geordneter Vision gewesen. Es sagt immer viel über den Schreiber aus und das ist die wahre Biographie.

    • admin

      Liebe Susanne, das ist sicher richtig. Ich würde sogar fragen, was das überhaupt sein soll, eine “wahre” Biographie. Und wer sich dafür interessieren sollte. Selbst der Fahrplan der Deutschen Bahn ist nicht wahr.
      Mir hat vor langer Zeit mal ein Leser geschrieben, dass er sich im Buch wiedererkannt habe. Der Mann in der Straßenbahn sei er gewesen. Na schön, mag sein. Aber ich kannte ihn gar nicht. Und eine Straßenbahn kam in dem Buch gar nicht vor.

  • ANH

    “Aber ich kannte ihn gar nicht. Und eine Straßenbahn kam in dem Buch gar nicht vor”:

    Großartig! Dann hat das Buch g e w i r k t.

    (Zu oben angespielten, sagen wir, Grundfrage: Abgesehen vom lebensnotwenigen physischen, organischen Vorgang kann nicht gesagt werden, ob ein und warum w e l c h e r Atemzug für das Entstehen eines Textes ursächlich war, es werden ohnedies mehrere Atemzüge sein, aber eben nicht alle; ein Atemzug unversehenen Erschreckens eben, mehrere Atemzüge der Freude oder gar Lust. Oder des Traurigseins, gar der Trauer. Oder eine Melange. Und es ist nicht auszuschließen – und damit zumindest den Versuch wert, ihn oder sie zu erzählen -, … nicht auszuschließen also, daß eine solche Zusammenstellung von Atemzügen eine Fokussierung auf die Genese eines Textes (oder anderen Kunstwerks) erlaubt und eben sogar seiner der Urheberin/dem Urheber selbst unbewußten Bewegungskräfte zu erkennen – über die, denke ich, ein Text sogar gesteuert wird. Allerdings ist es unmöglich, j e d e n Atemzug aufzuzeichnen, und wenn wir es versuchten, darüber irre werden – und alle um uns herum dann mit.)

    • admin

      Überspitzt und vereinfacht ist meine Bemerkung über “jeden Atemzug” natürlich.

      Mir geht es zudem grundsätzlich so, dass ich noch dann, wenn ich mit dem Schreiben längst begonnen habe, nicht wirklich bzw. vollständig weiß, worauf es hinaus laufen wird. Das Schreiben ist (für mich) kein Vorgang, bei dem nur etwas aufgezeichnet wird, was ich vorher längst weiß. Es ist vielmehr ein Prozess der ständigen Anlagerung, der erst endet, wenn das anzulagernde Material aufgebraucht ist.
      Allerdings birgt das stets die Gefahr, dass man nie fertig wird. Und so arbeite ich auch jetzt an Themen/Stoffen, die ich schon mein ganzes Leben über drehe und wende.

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