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Der menschliche Makel – mit Ceronettis Blick

Mittwoch, 20. Dezember 2017, bei Verdis "La forza del destino", mit dem
Kirov Orchestra unter Waleri Gergijew - dem Putinfreund //
Zwei Wege trennten sich im Wald, und ich –
ich nahm den Weg, der kaum begangen war
Robert Frost: The road not taken

// Triefiger, kalter und dunkler Tag, da es viel zu warm ist, fast +7 Grad, hocken bereits wieder die Mücken von draußen auf den Fensterscheiben; aber natürlich ist die Musik wie immer ein Trost.

Die Liebste muss heute noch einen Tag unterrichten, während ihre Schüler sich via SMS reihenweise abmelden und in den Weihnachtsurlaub verdrücken. Möchte sie am liebsten hier behalten. Ein Kollege beantwortete gestern nach sechs Monaten eine Mail, was mich erleichterte, da ich ihn nicht gesund weiß und schon Schlimmes befürchtet hatte; werde ihm heute noch schreiben müssen. Ja, das ist es so, was mir an Alltäglichem durch den Kopf geht. Und natürlich die ewige Frage nach der Dualität, nach dem Hellen und dem Dunklen, nach den zwei Wegen, die es immer zu geben scheint, nach Glück und Unglück – oder soll ich besser gleich nach Gut und Böse sagen?

Ceronetti schreibt in sein melancholischen Betrachtungen*, dass er wisse “daß die Menschen von Natur aus und nicht durch Zufall  schlecht” seien. Das kann und will ich nicht mit dieser Bestimmtheit sagen, weil ich dahinter einen Platonismus erahne. Will sagen, ich glaube nicht an absolute Größen, man müsste schon alle Menschen, restlos alle Menschen, vermutlich auch die zukünftigen, untersucht und vermessen haben, um zweifelsfrei feststellen zu können, ja, es stimmt, die Menschen sind von Natur aus das und das, wir haben keine Ausnahme gefunden.

Guido Ceronetti (24. August 1927 – ???)

Mir scheint, Ceronetti ist einer dieser pessimistischen Aphoristiker, die sich mit ihrer Weltsicht auf der sicheren Seite wissen. Das ist eine Art und Weise, sich unangreifbar zu machen

Wenn ich weiß, dass alle schlecht sind, dann weiß ich ja immerhin, woran ich bin, kann also nicht mehr enttäuscht werden. Aber mal ehrlich, was hilft es mir, realisiert zu haben, dass ich mich in einem Wolfsgehege befinde? Vor allem, falls ich das einzige Lamm sein sollte.

Zu oberflächlich ist diese Betrachtungsweise außerdem, denn es soll schon Leute gegeben haben, die, nachdem sie etwas Geduld aufgebracht hatten, feststellten, dass man auch mit Wölfen kuscheln kann. Aber Pessimisten wollen das natürlich gar nicht. Was macht man mit Leuten, die bestimmte Erfahrungen gar nicht machen wollen?

Ich weiß auch nicht, man müsste ja zumindest neugierig bleiben, neugierig auf eine weitere und möglicherweise gegenteilige Erfahrung. Und eben damit scheint mir in einer kontingenten Welt immer zu rechnen zu sein. Denker, die sich zu grundsätzlichen Aussagen über das Wesen des Menschen versteigen, glauben aber nicht an den Zufall, sie basteln sich vielmehr Chiffren der Transzendenz, um – nach dem unbestreitbaren Tod Gottes – den vermeintlichen Kontakt zu einer unbezweifelbaren WAHRHEIT nicht zu verlieren.

Um diese Art des Denkens zu konterkarieren hatte ich mir einige Jahre hindurch mal angewöhnt, die Antwort zu geben: “Wirklich WAHR sind nur die Madrigale von Monteverdi.” Das sage ich aber schon lange nicht mehr, denn es ist sinnlos. Es ist in keinem einzigen Fall verstanden worden. Also, ab dafür.

Was der Mensch ist, das liegt nicht fest. Und das ist ja auch das Schöne daran. Es ist im Grunde einfach situationsabhängig. Das ist gut und schlecht zugleich, denn es heißt, dass wir niemals sicher sein können, was dieses seltsame Wesen im nächsten Moment tun wird: Sich ans Klavier setzen und Beethoven-Sonaten spielen oder ein KZ leiten. Ja, gab manche, die konnten beides und hatten beim Umschalten kein Problem.

Aber selbst diesen würde ich nicht das Prädikat des von Natur aus Bösen zuschreiben. Dahin gehört auch das, was die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Bericht “Eichmann in Jerusalem” über Eichmann sagte. Sie glaubte wohl tatsächlich, er habe sich durch sein Handeln außerhalb der Menschheit gestellt. Klar, sie bezeichnete ihn ja als ‘hostis generis humani‘, als einen ‘Feind der Menschheit’. Und wer Feind der Menschheit (wieder so ein quasi-metaphysischer Großbegriff) ist, der muss ja außerhalb davon stehen, wie eine Art Alien, der aus den Tiefen des dunklen, kalten Weltalls zu uns auf unsere heimatlichen Erde kommt und, was will, natürlich uns guten Menschen ausrotten.

Hannah Arendt fehlten wohl einfach die erforderlichen Kategorien, die ihr gestattet hätten, nicht in solch eine Schematisierung zu verfallen: Hier die Menschheit, die grundsätzlich was ist? Ja, was denn? Und dort dieses Alien, das in seinem Eichmann-Kostüm die Endlösung organisiert.

Ich plädiere also unbedingt dafür, Leute wie Eichmann wieder unter unseresgleichen einzugliedern. Das mag unbequem sein, aber es gibt ja auch sonst eine Menge Verwandtschaft, die wir nicht so einfach loswerden. Egal, ob wir sie hassen, uns ihrer schämen etc.

Wir alle sind Mörder, zwar nicht immer, nicht jeden Tag, nicht bisher, weil uns vielleicht die Gelegenheit noch gefehlt hat oder irgendetwas anderes uns davon abhielt, die Notwendigkeit nicht groß genug war usw., aber wir sind Mörder. Das ist unser Makel. Und er unterscheidet uns in der Tat vom Tier. Wir sind es durch die Geschichte unserer Evolution immer gewesen, einige etwas mehr, andere etwas weniger. Damit müssen wir klarkommen, es gibt keine Entschuldigung für uns.

Aber davor habe ich keine Angst. Ich habe allenfalls vor zwei Arten von Mitmenschen Angst. Erstens vor denen, die ahnungslos sind und blind für das, was sie sind, durchs Leben gehen. Die stehen dann nämlich eines Tages da und wissen nicht, warum sie es getan haben. Wussten Sie übrigens, dass das die häufigste Antwort von Mördern ist? ‘Also, Sie haben ihn erstochen?’ / ‘Ja, das habe ich getan.’ / ‘Aber er war doch sofort nach dem ersten Stich tot. Warum haben Sie dann noch 38 mal zugestochen?’ / ‘Ich weiß es nicht.’

Das sind die einen. Das sind wir bzw. diejenigen, zu denen wir jederzeit werden könnten. Und die anderen sind Leute, die die Welt verbessern wollen. So einer war Eichmann. Die Nazis wollten nämlich die Menschheit verbessern, heute würden sie wohl ‘optimieren’ sagen, in einer irregeleiteten Vorstellung von Rassendenken, in einer von hygienischen Säuberungsvorstellungen bestimmten Pseudowissenschaft, halbverdauten und missbrauchten Gedanken zur Evolution.

Vor solchen Leuten muss man sich ganz drastisch hüten. Nehmen Sie die Beine in die Hand, wenn Sie so jemanden treffen. Jubeln Sie ihm/ihr nicht zu. Dann wird es nur noch immer schlimmer. Wer die Welt verbessern will, der bereitet den Massenmord vor.

Weiß jetzt nicht, ob Sie das mit Ihren Weihnachtsvorbereitungen wirklich weiter bringt, aber

bleiben Sie trotzdem glücklich
Ihr PHG

 

 

 

 

(*) Ceronetti, Guido: L’occhiale malinconico, Milano 1988
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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker