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Ein Traum an Pentēkostē

Wiesbaden, Sonntag, 20. Mai 2018, bei Telemanns 
'Brockes-Passion' unter René Jacobs

Am Morgen erwachte ich gegen sechs Uhr aus einem Traum, in dem ich in Rom vor der Kirche der Kanadischen Märtyrer gestanden hatte. Ich erkannte die Kirche mit ihrer strahlend weißen Fassade im Traum sofort, obwohl es fast 30 Jahre her ist, dass ich real dort gestanden hatte bzw. auf meinem Weg zum Coop in der Viale Ventuno Aprile fast täglich daran vorbeigegangen war, denn der moderne Bau ist unverkennbar.

Während ich schaute, sagte eine Stimme zu mir: “Du hast eine schwer erzählbare Geschichte erzählbar gemacht.”

Ich erwachte sofort und war zutiefst erschrocken. Als ich mich im Bett aufsetzt, dachte ich:  Dann sterbe ich also jetzt.

Der Satz über die ‘schwer erzählbare Geschichte’ war eindeutig ein Resümee gewesen, jemand hatte die Summe ermittelt und mir das Ergebnis mitgeteilt. Und dieses Ergebnis war nicht auf eine einzelne Tat bezogen, also auf ein spezielles meiner Bücher etwa, sondern es war auf alles gemünzt.

Und der zweite Gedanke, der mir kam, ein zugegeben beinahe paranoischer Gedanke, lautete: Es gibt also jemanden, der mich beobachtet und beurteilt. Nun weiß ich zwar, dass das menschliche Gehirn auch mit sich selbst zu sprechen vermag, – was tut man denn als Künstler in der Imagination sonst? -, doch war das Ereignis nicht von der Art, dass ich es mit der Annahme wegerklären könnte, ich hätte mit mir selbst gesprochen.

Warum der Traum ausgerechnet vor dieser römischen Kirche stattfand, das weiß ich im Grunde nicht. Abgesehen davon, dass ich so oft daran vorbei ging vor 30 Jahren, habe ich zu den kanadischen Märtyrern keinerlei Beziehung, ich weiß nicht einmal, warum und wodurch sie zu Märtyrern gemacht wurden, habe immer nur angenommen, dass es um ein Ereignis im Zweiten Weltkrieg gehen müsse, was aber vielleicht gar nicht stimmt.

Vermutlich verortet mein Unbewusstes an diesem Ort den seelischen und künstlerischen Tiefpunkt meines Lebens, denn die Kirche liegt neben der Deutschen Akademie Villa Massimo, in der ich das Jahr 1989 hindurch gelebt habe und glaubte, dass ich niemals mehr ein Buch zustande bringen würde. Tatsächlich ist alles, was ich heute von meinem Schreiben für wichtig halte, erst lange danach entstanden. So viele Jahre später, dass ich fast sagen könnte, ich bzw. mein damaliges Leben sei damals gestorben. Alles danach war eine Wiederauferstehung im Abstand von zwei Jahrzehnten.

Nun, ich hoffe natürlich, dass das Resümee nicht die Folgen zeitigen wird, die ich nach dem Aufwachen gewärtigen zu müssen glaubte. Es sind einfach noch zu viele Bücher fertigzumachen, zu viele schwer erzählbare Geschichten müssen noch erzählbar gemacht werden.

Haben Sie schöne Pfingstage
und bleiben Sie glücklich
wünscht Ihnen Ihr PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker