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Das Instrument ist die Schrift

Wiesbaden, Dienstag, 12. Juni 2018, bei Shostakovichs
Preludien & Fugen, op. 87, Piano Alexander Melnikov
… das Instrument ist die Schrift, also man zieht
sich mit Hilfe des Geschriebenen aus sich selber
heraus, bevor man in sich selber versinkt, in die
Alleinheit versinkt, die ja dann sehr große
Ähnlichkeit mit einem schwarzen Loch hat.
(Peter Handke: Zwischenräume)

Regentag, der schon in der Nacht wunderbar begann. Das Geräusch des Regens weckte meine Erinnerung an die langen Wochen, die ich mit AW im Elsaß verbrachte, als ich für ihn das Drehbuch zum Film “Die weiße Straße” schrieb. Wir wohnten in einem abgelegenen Tal, in einem alten Haus, das zur Zeit Napoleons erbaut worden war. Es lag in Schrittnähe zu einem Bach, dessen Fließen ich mit in den Schlaf nahm, wenn ich bei offenem Fenster noch las und dann langsam einschlummerte. Mir war, als schliefe nicht ich ein, sondern als nähme mich der Bach mit sich fort.

Auch jetzt sitze ich bei offener Tür, um den Regen zu hören, der sich mit Melnikovs Klavierspiel mischt. Schostakowitsch soll sein op. 87 komponiert haben, nachdem er 1950 auf dem Bach-Fest in Leipzig war und dort das “Wohltemperierte Klavier”, gespielt von Tatjana Nikolajewa, hörte. Mir erscheint dieses Werk sehr nachdenklich zu sein, als habe sich der Komponist, Ton für Ton aus einer großen Dunkelheit herauszubuchstabieren versucht.

Aber wie konnte es auch anders sein, wenn man in den ‘Bloodlands’ von Hitler und Stalin hatte überleben müssen. Die Schlachthäuser des 2. Weltkrieges hatten noch immer klaffend weit offenstehende Türen, und auf den Tod des Tyrannen Stalin musste man noch drei Jahre warten.

Zwar ist es Zufall, den es ja bekanntlich nicht gibt, dass ich gegenwärtig Schostakowitsch höre, diesen großen, traurigen Mann, und Handke lese – den einen lese ich seit Wochen, immer morgens, noch vor dem Frühstück, den anderen höre ich nach langer Unterbrechung wieder seit drei Tagen – aber für mich gehört beider Werk momentan zusammen.

Was aber auch bedeutet, dass ich Schostakowitschs Musik nicht als politische Musik betrachte. Das mag erstaunen, wird doch gerade seine Musik immer im zeitgeschichtlichen/politischen Kontext verstanden. Für mich gilt das nicht mal für seine 7. Sinfonie, die sogenannte “Leningrader”. Solche Zuordnungen sind nichts als die kleinen Hilfstreppchen, auf die die Zuhörer zu klettern pflegen, weil sie dann etwas zu verstehen glauben; ohne solche Gehhilfen, allein vor der Musik, wären sie völlig hilflos.

Schostakowitsch ist sicher der größte Komponist des 20. Jahrhunderts, und das 20. Jahrhundert war wohl das blutigste der Menschheitsgeschichte, aber daraus erklärt sich seine Musik nicht. Schostakowitschs Musik erklärt sich nur aus Schostakowitsch, sie ist kein zeitgeschichtlicher Kommentar; sie ist seine persönliche Musik. Wer das nicht sieht, der verpasst Schostakowitsch.

Es macht übrigens keinen Unterschied, ob das Instrument für den Schriftsteller die Schrift der Buchstaben und Wörter und für den Komponisten die Schrift der Noten bzw. Töne ist. Beide bringen mit diesem Instrument etwas aus sich heraus, bringen etwas zuvor Ungeformtes in eine Form. Darum allein geht es. Das ist es, was ich auch über mein eigenes Tun schreiben möchte. Was hast du getan? Ich habe etwas ausgedrückt, in eine Form gebracht, was ohne mich unausgedrückt und formlos geblieben wäre. Nichts sonst.

Ich wünsche Ihnen was
sagen wir in C-Dur
damit Sie glücklich bleiben
Ihr PHG

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker