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Die Stille der Welt vor Bach

Wiesbaden, Donnerstag 03. April 2014

Seit Tagen ruhiges tägliches Schreiben bei lauter Blütenfrühling vor dem Fenster des Arbeitszimmers und dazu unentwegt von Opernarien wechselnder Tenören der Operngeschichte begleitet. Begonnen mit Enrico Caruso (1873-1921), danach Beniamino Gigli (1890-1957), Richard Tauber (1891-1948), Peter Anders (1908-1954) und zur Zeit der wunderbare Jussi Björling (1911-1960), von dem Jens Malte Fischer schrieb, eine solche Stimme zu haben sei ein Geschenk besonderer Art. Nach Björling werde ich mit Ferrucio Tagliavini (1913-1995) weitermachen. Danach dann Mario del Monaco (1915-1982), Mario Lanza (1921-1959), Guiseppe di Stefano (1921-2008) und Nicolai Gedda, dem einzigen aus dieser großen Reihe, der noch lebt, geboren ist er 1925.

Und ganz ehrlich, ich habe mich heute plötzlich gefragt, ob das nicht zuviel des Glücks sei. Ich weiß nicht, ob das jemand versteht, aber wenn ich mir für einen Moment vorstelle, dass es all diese und andere Stimmen, die ich liebe, nicht gäbe, nie gegeben hätte, dann bekomme ich ein Gefühl, als stürzte ich in ein derart großes Unglück, dass die Verzweiflung mich zu überfluten droht.

lars gustafsson2
Der schwedische Autor – oder sollte ich besser ‘Poet’ sagen? – Lars Gustafsson, einer meiner Schutzheiligen während meiner lebenslangen Zeit am Schreibtisch, hat einmal ein Gedicht mit dem Titel “Die Stille der Welt vor Bach” verfasst. Es geht  so:

DIE STILLE DER WELT VOR BACH

Es muß eine Welt gegeben haben vor
der Triosonate in D, eine Welt vor der A-moll-Partita,
aber was war das für eine Welt?
Ein Europa der großen leeren Räume ohne Widerhall,
voll von unwissenden Instrumenten,
wo das ‘Musikalische Opfer’ und das ‘Wohltemperierte Klavier’
noch über keine Klaviatur gegangen waren.
Einsam gelegene Kirchen,
in denen nie die Sopranstimme der Matthäus-Passion
sich in hilfloser Liebe um die sanfteren
Bewegungen der Flöte gerankt hat,
weite sanfte Landschaften,
wo nichts zu hören ist als die Äxte alter Holzfäller,
das muntere Bellen starker Hunde im Winter
und Schlittschuhe auf blankem Eis wie ferne Glocken;
die Schwalben, die durch die Sommerluft schwirren,
die Muschel, die das Kind lauschend ans Ohr drückt,
und nirgends Bach, nirgends Bach.
Die Schlittschuhstille der Welt vor Bach.

Gäbe es nicht die Musik, ich wäre gezwungen, ein ganz anderer Mensch zu sein,  einer, den ich mir eigentlich gar nicht vorstellen mag.

Nun, aber das gibt es ja nicht. Die Menschen – und damit meine ich jetzt nicht ein irgendwie verschwommenes Großsubjekt sondern unsere Gattung, die Gattung, die wir im Reich des Lebens auf diesem Planeten bilden – hat von allem Anfang her immer Musik gemacht. Erste Musikinstrumente, aus Knochen etwa, datieren aus der Zeit des ersten Auftretens des Homo sapiens. In einer Höhle auf der Schwäbischen Alb wurde 2008 eine Flöte, die inzwischen als ältestes Musikinstrument weltweit gilt, gefunden.

Sie ist aus dem Flügel eines Gänsegeiers gemacht und mindestens 35.000 Jahre alt, stammt also aus der Eiszeit. Ich habe Sie 2009 im Stuttgarter Landesmuseum gesehen.

So, meine Aufnahmen von Björling sind durch, jetzt folgt bei mir also Tagliavini, mit dem ich an meinen für heute eigentlichen Text zurückkehre; das hier war gewissermaßen meine Mittagspause.

Ich wünsche Ihnen so viel Musik für Ihr Leben, dass Sie glücklich bleiben können.

Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker