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The Dark Side of the Moon?

Freitag, 11. Jan. 2019, bei Pink Floyds letztem Live-Auftritt, dem PULSE Konzert vom Oktober 1994, heute auf arte

Lebe ich in der Vergangenheit, wenn ich die Pink Floyd-Platte von der dunklen Seite des Mondes – sie erschien 1973 – zur Gegenwart rechne? Vielleicht. Aber egal, ich sage: Gegenwart ist alles, was für MICH Gegenwart ist; meine eigene Zeit, meine Eigenzeit ist (die) Gegenwart, und alles, was zu mir gehört. Was denn sonst. Ich denke ja auch nicht in Kategorien von Vergangenheit, wenn ich Bach höre oder die Madrigale von Monteverdi. Nur die mögliche Öffnung meines Bewusstseins wäre in der Lage, meiner Gegenwart Grenzen zu setzen, und da ich immer auf die No-Limit-Regel gesetzt habe, wenn es um den Geist ging, so ist keine Grenze in Sicht. Auch heute nicht, da ich inzwischen die erste Woche meines 70ten Jahres hinter mich gebracht habe.

Aber gehen wir in die nähere Vergangenheit, die nun unsere Gegenwart ist: Das Jahr 2018 war eine große Anstrengung für die Liebste und mich und liegt immer noch wie ein drückendes Gewicht in unserem Rücken, einerseits wegen vieler – oft nicht einfacher – Reisen, etwa der nach Auschwitz, nicht zuletzt aber auch, weil uns Menschen weggestorben sind, von denen wir jetzt sehr deutlich empfinden, dass sie uns verlassen haben. Auf den Seiten der Familien sind wir beide jetzt ganz allein. Für mich war das schon mit dem Dezember 2015 eingetreten, als ich meine Mutter beerdigte, für die Liebste erst mit dem Tod ihrer Mutter Mitte November und ihrer Beerdigung zu Ende der ersten Dezemberwoche, im eben vergangenen Jahr.

Seither sind wir neben unserem Alltagsgeschäft damit beschäftigt, Nachlässe zu sichten, Häuser und Wohnungen auszuräumen, Handwerker zu koordinieren und mit der Erkenntnis fertigzuwerden, dass außer den Dingen selbst nichts bleibt. Mitte Dezember notierte ich ins Tagebuch: „J. sagte gestern auf der Fahrt zum Roten-Kreuz, wo wir zum dritten Mal riesige Säcke voll mit alter Bekleidung abluden, es sei erschreckend, dass sich bisher noch gar nichts im Haus angefunden habe, was man verkaufen könne. Zwar legt sie gar keinen Wert darauf, etwas zu verkaufen, aber sie meinte es auch mehr im Sinne der allgemeinen Unbrauchbarkeit all der Dinge, die das endlos vollgestopfte Haus ihrer Eltern füllen. Nicht mal die Sammelstellen für die Obdachlosen interessieren sind dafür. Ich erwiderte, es erschrecke mich noch mehr, dass wir bisher noch gar nichts gefunden haben, womit wir weiterhin leben möchten. Dabei haben ihre Eltern niemals auch nur die geringste Kleinigkeit weggeworfen. Wir fanden sogar die allerersten Kochtöpfe, drei verrostete, schwarze, völlig abgenutzte Eisentöpfe, die die Eltern Ende der 50er Jahre gekauft haben müssen. Oder die rosafarbene Plastikwanne, in der Jutta nach ihrer Geburt 1959 gebadet worden war.“

Dabei sind wir beide seit vielen Wochen krank, und ich gehe jetzt auf die letzten drei Tage einer Antibiotika-Kur zu.

Was wird werden? Ich weiß es nicht wirklich. Durch die Ereignisse sind die abschließenden Überarbeitungen des zweiten Erzählbandes der Liebsten liegen geblieben, sodass sich der Termin der Veröffentlichung immer weiter verschiebt, wenn er nicht ganz ausbleibt, denn es gab auch schon den Moment, da sie meinte, das neue Buch sei gestorben.

Bei mir ist es ähnlich, da ich das ganze Jahr 2018 für die Veröffentlichung zweier Romane und die Fertigstellung eines dritten Buches, eines Bandes mit 3 Novellen, gekämpft habe. Was an diesen drei Büchern meinen Teil der Arbeit betrifft, so habe ich mir nichts vorzuwerfen; alles ist fertig geworden. Ich habe sogar für die Druckvorlagen und die Umschlagbilder gesorgt. Aber erschienen ist bisher nichts.

Allein die überarbeitete Neuauflage meines ursprünglich 2011 erschienenen Romans „Calvinos Hotel“ steht nun für das Frühjahr an. Ich will es mal hierher setzen, auch wenn das unten abgebildete Cover noch nicht der letzten Fassung entspricht.

Als ich am Morgen in meinen Notaten einige Eintragungen ergänzte – die Liebste war bereits gegen 07:00 Uhr im Schneetreiben hinunter in die HL-Straße gefahren – fand ich einen alten Brief meines jüngsten Sohnes, der damals wohl das Verlagsprogramm der Erstveröffentlichung des Romans von 2011 gelesen hatte. Er schrieb:

„hi papa hab ich mir durchgelesen und in mir wurden da noch ein paar erinnerungen wach. Kann mich gut dran erinnern wie du früher viele filme und dokus über den Krieg aufgenommen hast. Und uns davon berichtet hast. Und auch sonst darüber gesprochen, mit eva die dann von ihrer freundin erzählte, die aus dem Kriegsgebiet Jugoslawien kam. Ich war noch recht klein, aber ich kann mich auch an diese Zeit erinnern. Das war der erste Krieg, von dem ich in meinem Leben etwas mitbekommen habe und der mich damals, auch wenn ich ein Kind war, schon beschäftigte. Ich kann mich noch an die ganzen Plakate zu diesem Krieg, die in der Schanze hingen, erinnern. Und eines davon habe ich nie vergessen. Auf dem Bild war ein von Kugeln durchlöcherter Junge, die wunden waren sehr deutlich zu sehen. Da begriff ich, dass man auch als junger mensch sterben kann. Bis dahin hatte ich immer gedacht, man stirbt erst, wenn man alt ist. Ich habe mir dieses Bild immer angesehn.“

Ich habe ihm damals geantwortet: „Es bewegt mich sehr, dass Du Dich daran so gut erinnern kannst. Du warst, als der Krieg begann, 4 Jahre, als er endete, 7 Jahre alt. Und ich habe auch nicht mehr gewusst, dass ich mit Euch darüber gesprochen habe. Aber das kann ja wohl nicht anders gewesen sein, denn ich habe mich tatsächlich sehr intensiv damit befasst. Und natürlich habe ich Euch immer erzählt, was ich tue. Aber das war es ja auch, was man mir vorgeworfen hat. Was für ein Idiot von Vater muss das denn sein, der seinen kleinen Kindern vom Krieg und vom Tod erzählt. Ja, der Tod, den hast Du dann also auch früh begriffen. Das ist gut, mein Sohn, sehr gut. Es gibt Leute, die begreifen das noch nicht mal, wenn sie selbst dran sind. Da bist Du viel besser. Sei umarmt.“

Das ist nun also auch schon über 8 Jahre vorbei. Auch wie gestern, obwohl ich die beiden Texte erst heute wiedergefunden habe, seine Mail und meine Antwort habe ich damals in Kopie in mein MacJournal übernommen. Nun, das ist heute alles egal. Erinnert sich heute noch jemand an den Bosnien-Krieg? Doch vermutlich nicht. Erinnerungen loszuwerden ist ja geradezu zum Reflex geworden. Alltagstauglichkeit bemisst sich daran, dass man möglichst wenig Vergangenheit mit sich herumträgt. Aber das ist mit mir nicht zu machen; die Vergangenheit ist meine Gegenwart. Und darum verstehe ich die Gegenwart übrigens auch, im Gegensatz zu meinen Zeitgenossen, die keine Vergangenheit mehr gelten lassen.

Alles, was in der Gegenwart geschieht, erklärt sich aus der Vergangenheit. Nichts, gar nichts, erklärt sich anders, wird ohne die Vergangenheit verständlich. Darum verstehe ich auch erst jetzt, da sie tot sind, meine Eltern und Schwiegereltern so viel besser. Unser Leben ist ein Hologramm, es erhält seine vollständige Gestalt durch alles, was jemals geschehen ist. Jeder Punkt, jeder Ort, jeder Moment der Zeit ist darin enthalten. Alles zusammen gibt erst das Bild unseres Lebens ab, in allen (drei?) Dimensionen. Interessant ist, dass das griechische ‚Hologramm‘ (γράμμα / gramma) nichts anderes meint, als das Geschriebene, die gesamte Botschaft.

Manchmal fühlt man sich wie in der Spätantike, als diejenigen, die sehend waren, in die dunkle Zeit blicken mussten, die man später dann das Mittelalter nannte. ‚Winter is coming‚. Oder wie einer meiner Lieblingsautoren sagte: „Ich schreibe für eine Zeit, die keine Bücher mehr haben wird. Vielleicht auch keine Augen mehr.

Nun, warten Sie es ab und
bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker