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Alles schreibt sich dem Körper ein

Sonntag, 28. April 2019, bei Schuberts 3. Sinfonie unter Zubin Mehta

Wie vor 18 Jahren, als ich an einem Nierenkarzinom erkrankte, hat auch diesmal die Krankheit Spuren quasi in der Peripherie hinterlassen, als sei es mit dem hauptsächlichen Geschehen, also der Lähmung meiner rechten Körperhälfte, nicht genug.
Schon in der zweiten Woche des Krankenhausaufenthaltes splitterten die Fingernägel und brachen ab. Inzwischen kann ich auf dem Daumennagel der gelähmten Seite eine tiefe Rille ertasten, eine Unterbrechung des Wachstums, ganz wie man an den Ringen der Bäume Trockenperioden datieren kann. Auch die Haare begannen mir zu Beginn der zweiten Woche auszufallen. Und natürlich habe ich zehn Kilo an Gewicht verloren. Nun, auch Zivilisationen zerfallen von den Rändern her.

Hirninfarkt links

Ich bin sicher, der ganze Körper ist, neben allem anderen, was er sonst noch – und vielleicht sogar hauptsächlich – ist, auch ein Gedächtnis. Jede Zelle, jeder Zellverbund, vermag Ereignisse aufzuzeichnen und sich daran zu erinnern. So begann etwa, als ich mit 24 Jahren in die Meditation eingeführt wurde, mein linker Fußknöchel fürchterlich zu schmerzen; ich hatte ihn mir als Zehnjähriger gebrochen, als ich durchs Treppenhaus meiner Kindheit sprang. Natürlich hatte ich an das Ereignis längst nicht mehr gedacht, doch nun war alles wieder da.

Von solch einer Körpererfahrung handelt auch mein Gedicht:

In der Nacht Walzerklänge
Mein Herz, dieser fremde Gast in der Brust.
Regelmäßig am Nachmittag klopft er an,
etwa zwischen vier und fünf.
Ich nehme ihn dann mit auf den Postgang,
rede mit ihm wie mit einem unartigen Kind.
Aber er hört nicht auf mich.

Mag sein, ich habe mit ihm einen alten Vertrag,
an den ich mich nicht erinnere,
und er erfüllt nur seine mahnende Pflicht.
Mag sein, er weiß etwas, das ich nicht wissen will.

Es ist vermutlich das Licht, der Geruch von feuchtem Haar und Walzerklänge in der Nacht. Die ganze lange Geschichte eben.
Dazu Farben. Resedagrün zum Beispiel, das Blau
im Innern des Eises und das unglaubliche Leuchten
im Moment der Berührung einer fremden Haut.

Mag sein, zwischen uns besteht ein Vertrag
über die Dinge, denen ich untreu geworden bin.
Das Herz kennt all das und bewahrt es auf,
für den Tag, da es bricht.

Ja, die ganze lange Geschichte eben. Oder wie der schnoddrige DFW sagt: What it is to be a fucking human being. Versuchen Sie sich mal, einige Sekunden lang nur, aber tuen Sie sich mal den Gefallen, sich vorzustellen, was die Körper von misshandelten und missbrauchten Kindern aufbewahren. Klar, dann wird Ihnen schlecht, aber das muss es auch.

Zur Zeit wird bei mir Beethovens Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 61 mit Leonidas Kavakos abgespielt. Die Musik ist ja immer ein Trost.

Ich wünsche einen schönen Restsonntag
und bleiben Sie glücklich, sagt PHG

PS: Wenn Ihnen das übrigens gelingt, die Vorstellung der Kinder meine ich, dann gehören Sie zu den Menschen, zu den mitfühlenden Wesen.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker