Anfänge zum Jahresschluss
Samstag, 30. Dezember 2023, bei „Ombra Mai Fù“ der Countertenor Andreas Scholl singt Arien von Georg Friedrich Händel
Mehr Schatten war nie, bin ich versucht, abwandelnd zu sagen, nicht bei uns – meiner Liebsten und mir -, nicht in der näheren und weiteren Umgebung, und in der Welt, das weiß man. Wenn es nicht unsinnig wäre, einem Jahr böse zu sein, dem Jahr 2023 wäre ich es. Es war ein Jahr, das ich ohne zu zögern wegwerfen würde, oder, wie ein Dichter von der Elbchaussee einmal schrieb, ich würde es mit dem Beil abtrennen, ginge es nicht von allein.
Da ist es ein treffendes Sinnbild, dass um uns herum schon seit Monaten gebaut, das heißt, zuvor massiv abgerissen wird und wir Tag für Tag auf die Trümmer der ehemaligen Nachbarschaft zu schauen gezwungen sind. Nun, man kann es auch so sehen, das wir selbst schuld sind, denn die ehemaligen Erbauer sind in den letzten Jahren verstorben, und wir hätten auch verkaufen und abreißen lassen können, um mit dem Geld in angenehmere Gegenden zu ziehen. Stattdessen hat die Liebste, um ihre Wurzeln nicht zu verlieren, renoviert und so ein Heim für sich und mich geschaffen. Seither habe ich ein Arbeitszimmer, das auf einen wunderbaren Garten schaut. Nur habe ich, in diesem Jahr des Abrisses, wenig bis gar nicht arbeiten können.
Einerseits, da die Liebste sich bei einem Sturz auf der Straße den rechten Arm und Ellenbogen zerschmetterte, andererseits, da ich passend das zwei Karzinom meines Lebens bekam.
Wir waren also weniger mit literarischen Arbeiten und müßigen Gartenschauen als mit Krankenhausaufenthalten und endlosen Arztbesuchen befasst. Und wenn wir nun am Jahresende feststellen können, dass die Probleme und unsere, daraus resultierenden, Verzweiflungen uns nicht umgebracht haben, so grenzt es in meinen Augen fast an ein Wunder. Ohne permanente Hilfe von Freunden und vor allem einigen wenigen Nachbarn, die immer wieder zur Verfügung standen, wenn wir schon gar nicht mehr daran glaubten, wäre es gar nicht gegangen. Vermutlich wäre ich im Sommer sogar gestorben, obwohl ich das nicht wahrhaben will, wenn nicht solche Hilfe und die Notärzte es dann doch noch verhindert hätten. Danke! Heaven knows.
Nun gut, aber es gab und gibt ja nicht nur Privates. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass es in der weltgeschichtlichen Situation wenig Grund zur Hoffnung gibt. Und dann doch wieder, denn wir neigen, meist zur psychischen Entlastung, wo es nicht eh aus Ignoranz geschieht, schnell zum Ausblenden des schwer Erträglichen. So auch in den Fällen des russischen Ukrainekriegs, an den wir uns beinahe gewöhnt haben, wie es scheint, und des unerträglichen Geschehens in Gaza, von dem gegenwärtig die größte Gefahr für den Weltfrieden ausgeht; ja, ich rechne in der Tat damit, dass der Westen gegen den Iran wird kämpfen müssen. Die Folgen überlasse ich Ihrer Fantasie.
Gestern bekam ich von Nirit Sommerfeld, eine meiner Kontakte, die meist zu israelischen Themen und Problemen sehr kritisch und differenziert berichtet, einen Newsletter mit u.a. diesem Inhalt:
Natürlich wirkt solch ein Appell an die Humanität sehr stark, und wer wollte sich vorwerfen lassen, dass da mit seiner Menschlichkeit etwas im Argen liege? Aber bitte, liebe Leute, liebe Nirit, kann man denn wirklich solch einen emotional hochaufgeladenen Ruf in die Welt senden und dabei völlig darauf verzichten, darauf hinzuweisen, von wem das grausame Schlachten begonnen wurde? Mir erscheint das höchst fahrlässig. Und wenn es nicht schon bewusst antisemitisch ist, dann leistet es zumindest dem Antisemitismus aller Seiten Vorschub.
Man kann und muss als Jude vielleicht über die rechtsnationale Politik Netanyahus erbost und sogar verzweifelt sein, aber es ist und bleibt trotzdem die Hamas und alles was dahinter steht, bis nach Teheran, die diesen fürchterlichen Konflikt entfacht hat. Und, das darf man nicht vergessen, der Konflikt würde nicht enden, wenn Netanyahu und sein Gefolge verschwände. Die Hamas ist kein Verhandlungspartner, mit dem man eine wie auch immer geartete Friedensordnung aushandeln könnte. Die Hamas will alle Juden vernichtet sehen, bedenkt das, wenn ihr für Humanität in Gaza werbt. Und, auch das darf nicht vergessen werden, es gibt sehr viele in der Welt, auf der rechten wie auf der linken Seite, die, während sie Israel wegen des Vorgehens in Gaza kritisieren, klammheimlich hoffen, das die Hamas, die Hisbollah usw. den Job erfolgreich beenden, den Hitler begonnen hat.
Darum, bei aller zu fordernden Menschlichkeit, setze ich auf die israelische Armee. Man wär gern menschlich und nicht so roh, doch die wahren Verhältnisse, wenn man die Augen davor nicht verschließt, die sind nicht so.
Bleiben Sie trotzdem glücklich,
ich wünsche es Ihnen, Ihr PHG
PS: Ich lese, wenn mir gegenwärtig dazu die Zeit bleibt, meist nachts, „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow – Es ist ein Buch, das mich hoffen macht, dass der Mensch doch nicht des Menschen Wolf ist. Und dass es eine Zukunft geben könnte, in der der Mensch dem Menschen ein Mensch sein wird.
2 Kommentare
Alban Nikolai Herbst
Großartiges Buch, ja. Ich hatte auch drüber schreiben wollen, es bislang nur nicht geschafft.
PHG
Das Buch lohnt sich wirklich sehr! Ich empfehle als zusätzlich Parallellektüre James C. Scott „Die Mühlen der Zivilisation“ – Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten, stw 2334