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Kafkas Leere

Montag, 8. November 2021, bei ‘From Gagarin’s Point of View’ vom E.S.T.

Wissen Sie noch? Es war spät abends, als K.* ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schloßberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor.

So beginnt Kafkas unvollendet gebliebener Roman “Das Schloß”, falls Sie ihn gelesen haben sollten, so ist das vermutlich lange her. Meist liest man Kafka in jungen Jahren, auch ich hatte meine erste große Kafka-Zeit so zwischen dem 20. und dem 30. Lebensjahr. Dann später, mit 40, las ich die Tagebücher. Und wenn ich heute zu Kafka zurückkehre, dann nicht, um Ihnen etwas zu empfehlen, was Sie vermutlich für ein altes und somit längst überflüssiges Buch halten werden.

Nun, es muss auch nicht sein. Vollmann, der sich sogar an der “Vollkommenheit” der Kafkaschen Sätze stieß und meinte, ihn mit ein paar Nebenbemerkungen “vom Sockel” gestoßen zu haben, fragte sich eh, “wer wir damals waren, als wir das mochten”. Er fand es schwer zu sagen. Möglicherweise hat er Recht, aber mir geht es um etwas anderes. Um Kafkas Blick in die Leere nämlich, um diese Ur-Szene der Literatur, wenn man es aus der Sicht des Autors betrachtet.

Natürlich ist auch sein Stehen zwischen den Welten dort auf der Brücke typisch und wichtig, nicht mehr dahin gehörend, wo er herkommt, – woher kommt er denn eigentlich? -, noch nicht zugehörig dem Dorf, zu dem er unterwegs ist, und tatsächlich wird er auch nie dazugehören, nie wirklich ankommen. Und auf das Schloss eh nicht, wer gelangt schon auf das Schloss? Aber das sind alles nur Folgen, sind zwangsläufige Ergebnisse, mit denen man sich abfinden muss.

Entscheidend ist die “scheinbare Leere”, in die er da emporblickt. Um die geht es nämlich in Wahrheit. Jeder Schriftsteller, so er nicht austauschbare Massenartikel nach Schablone produziert, kennt diese Situation. Das Stehen vor der Leere ist sein Leben. Ist seine Arbeit. Ist sein Schicksal. Was bedeutet das? Warum macht der Schriftsteller das? Ist er irre?

Wenn er irre wäre, einfach nur irre, dann wäre es leicht. Wir könnten uns abwenden, den armen Irren da auf seiner Brücke oder wo auch immer stehen lassen, unserer Wege gehen und uns mit den unzweifelhaft wichtigen realen Dingen beschäftigen. Hier mag jeder eintragen, was ihm bei dem Stichwort der realen Dinge so einfällt, was ihm täglich an Geröll vor die Füße gespült wird im Flussbett seines Alltags.

Aber die Schriftsteller und Dichter, letztere natürlich sowieso, werden weiter dorthin blicken, wo andere nur Leere sehen. Sie wissen nämlich, dass sich dort, in der scheinbaren Leere, ein Schloss befindet. Dorthin müssen sie, müssen es unbedingt, um den Preis ihres Lebens. Und wenn sie es lange genug zu erreichen versucht haben, dann kommen sie vielleicht mit einem Bericht von dort zurück, erzählen uns von den Wünschen und Hoffnungen, die sie zu dieser Reise getrieben haben, von den Strapazen des Weges, den Fallgruben, Hindernissen und Irr- und Umwegen in Nebel und Dunkelheit.

Und vielleicht wird dann der eine oder andere Leser dieser Berichte, es sind immer nur wenige, unter seiner Lektüre zu ahnen beginnen, warum die Schriftsteller dieses Unternehmen, das oft genug ihr Leben verbraucht, ja, regelrecht auffrisst, auf sich nehmen. Sie werden verstehen, dass ihnen ein Geschenk gemacht worden ist, denn den Blick und den Weg in die Leere wagt nicht jeder, kann nicht jeder gehen, so wie nicht jeder auf die hohen, gefährlichen Berge zu klettern vermag.

Was der Schriftsteller stellvertretend für sie unternimmt, ist eine Lebenserfahrung, die er ihnen schenkt, ohne dass sie die Angst ertragen müssen, die mit dem Erwerb dieser Erfahrung zwangsläufig verbunden ist. Der Schriftsteller verschafft den Lesern mit seinem Bericht den Zugang zu einem Erfahrungsraum, den sie, wenn sie wollen, unter angstverminderten Bedingungen betreten dürfen, um eine Lebenserfahrung zu machen, die ihnen sonst verschlossen bleiben würde.

Das ist der Sinn wahrer Literatur. Sie ist das Geschenk, das Dichter und Schriftsteller der Welt machen. Die wenigsten Leser nehmen es natürlich an, dieses Geschenk. Dinge, die geschenkt werden, haben längst keinen Wert mehr, sind suspekt. Das wissen wir doch.

Ich hoffe, dass Sie glücklich bleiben
Ihr PHG

PS: *falls Sie sich die Mühe machen, Kafkas Handschrift zu entziffern, so werden Sie entdecken, dass dort, wo jetzt ‘K.’ steht, zuvor ‘ich’ zu lesen war. Kafka erzählt also von seiner eigenen Reise in die Leere.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker