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30 Jahre verweht

Samstag, 9. November 2019, bei Jean Sibelius und den Symphonien Nr. 5, 6 + 7 unter Simon Rattle und den Berlinern

Habe vorhin lange gesucht, bis ich meine Aufzeichnungen aus dem Jahr 1989 fand, das ich in Rom verbracht habe. Ich erlebte den Mauerfall also aus der Ferne. Wie sah das damals für mich aus? Hier meine Notate dazu aus der Villa Massimo.

10. November 89: Der gestrige Tag brachte uns die Nachricht von der Öffnung der Berliner Mauer und der übrigen DDR-Grenzen. Es ging mir als Erschütterung durch den Körper, als habe mir jemand einen Stoß versetzt, und Tränen stiegen mir in die Augen. Mein Gott, dachte ich, du bist weit mehr ein Deutscher, als du bisher gedacht hast. Es ist ein gigantisches Ereignis, das mit Sicherheit die Weltgeschichte verändern wird, nicht nur europäische.

Ich bin elf Jahre alt gewesen, als ich im Fernsehen die Bilder vom Mauerbau gesehen habe, zuvor die verzweifelten Fluchtversuche durch die Verhaue aus Stacheldraht. Diese Bilder waren plötzlich wieder ganz frisch in mir, und ich wußte, daß ich nie für möglich gehalten hatte, daß ich in meinem Leben noch den Abriß dieser Mauer erleben würde.

Während des ganzen Tages waren wir in der Massimo immer wieder zusammen, um lange über die Ereignisse und die Folgen zu sprechen. Wir bewegten sogar Frau Wolken, den Deutschen Botschafter anzurufen, da wir meinten, daß ein gemeinsames Fest der deutschen Kolonie in Rom stattfinden solle, zu der die Deutsche Botschaft einladen müsse, und wir schlugen vor, daß die DDR-Botschaft ebenfalls geladen werde. Das war natürlich insofern Quatsch, da wir nicht bedacht hatten, daß diese Botschafter gezwungen sind abzuwarten und jeden falschen Zungenschlag zu vermeiden. Man dankte uns dann auch artig für unsere große Anteilnahme an den Ereignissen, versicherte uns, daß der Botschafter die Entwicklung ununterbrochen mit großer Aufmerksamkeit beobachte und uns sofort informieren würde, wenn die Situation eingetreten sei, an die wir dächten. Schließlich sei die Mauer bisher nur geöffnet, noch nicht gefallen.

Während des ganzen Tages hingen wir am Radio, um die neuesten Nachrichten zu hören. Abends dann die Bilder aus Berlin im Fernsehen. Tausende auf der Mauer, vor allem unerhört viele junge Menschen, Volksfeststimmung; man lacht, weint, trinkt, ruft, schlägt mit Hämmern und Spitzhacken auf die Mauer ein, und die VoPos lächeln gezwungen und begnügen sich ansonsten mit der Regelung des Verkehrs. Das wirkt fast gespenstisch. DDR-Bürger, die sagen, daß sie nur mal schnell auf ein Bier rübergekommen seien, kleine Stadtrundfahrt, wie sieht es bei Euch überhaupt aus, nachher fahren wir zurück und gehen ins Bett. Bis zum Abend waren über 120.000 aus Berlin-Ost nach Berlin-West gekommen, natürlich brach der Verkehr zusammen, aber, und das ist wichtig, nur etwa dreieinhalb Tausend wollten in Berlin oder der BRD bleiben! Für die allgemeine Fluchtsituation über die CSSR sollte das in den nächsten Tagen eine Entspannung bewirken, obwohl es bis zum Mittag noch nicht so ausah; die Ausreise ging dort ohne nachzulassen weiter.

Ich denke, daß das kommunistische System vollständig fallen wird, und zwar auf der ganzen Welt, mit Ausnahme China. Es wird noch eine Übergangszeit geben, in der sich die ehemals als ‘sozialistisch’ bezeichnenden Staaten Namen wie ‘demokratisch-sozialistisch’ geben werden, doch Sieger wird die Ökonomie sein. Und die Öffnung der DDR-Grenzen bedeutet auch das Einlassen des kapitalistischen Systems; es wird ja bereits von den Summen gesprochen, die man zu zahlen gewillt ist, wenn … Das bedeutet keine Aufhebung der Machtblöcke, zumindest vorerst nicht, doch ein Ausfransen der Einflußsphären, sowohl von den Rändern her als auch an zentralen Punkten wie den beiden deutschen Staaten.

Abends hatten wir Gäste zum Abendessen: Bodo Kirchhoff, Rune Mields, Kurt Leonhard und seine Begleiterin, Regine Höll. Recht gutes Gespräch bei italienischem Essen. Vor allem waren wir überrascht, daß Bodo gern gekommen war und sich angeregt unterhielt. Die Maueröffnung war ihm allerdings nur die Bemerkung wert, das gäbe ein paar neue Leser. Ansonsten natürlich der übliche Bildungsmüll. In welcher Kirche oder in welchem Museum befindet sich welches Bild und hat aus welchen Gründen eben gerade so gewirkt.

Ja, so meine Notizen aus der Zeit, da ich kaum mehr als halb so alt war wie heute. Denn das muss auch gesagt werden, dass seither die andere Hälfte des Lebens fast vergangen ist. Ein paar Seiten vorher, in diesen Notizen, fand ich den Vermerk über einen kindischen Streit mit meinem damals heftig pubertierenden ältesten Sohn, der jetzt längst die Richtung auf sein 50. Jahr eingeschlagen hat. Man denke nur.

Ich will schauen, ob ich nicht im kommenden Frühjahr mein vollständiges Rom-Tagebuch veröffentliche, will sagen, wenn es nicht zu lang ist und die Arbeit daran mich nicht überfordert.

Haben Sie noch einen schönen 9. November
und bleiben Sie glücklich
wünscht Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker