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“Sei ein Mensch!” – Warum wir unser Menschsein besser verstehen müssen

Mittwoch, 31. Januar 2024, bei Shostakovichs Sinfonien 8, 9 und 10, mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Kirill Petrenko

Weil wir wie üblich vor dem Frühstück kurz unser Faktenwissen zum Weltgeschehen updaten wollten, gerieten die Liebste und ich heute gewissermaßen ungewollt in die Erinnerungsstunde des Bundestages für die Opfer des Holocaust und blieben dann dabei. Ich weiß nicht, warum der Bundestag es nicht fertiggebracht hat, diese wichtige Veranstaltung auf den Internationalen Holocaustgedenktag zu legen, also auf den 27. Januar, den Tag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau, aber es wird sicher ein wichtiges Terminproblem gewesen sein.

Vor allem Dank der beiden eingeladenen Redner, der 91jährigen Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi und dem Sportjournalisten Marcel Reif, war es eine beeindruckende Veranstaltung, die mit dem wichtigen Appell “Sei ein Mensch!” schloss und ihren Höhepunkt fand. Dieser moralische Imperativ war Marcel Reif von seinem Vater mit auf den Lebensweg gegeben worden, der ansonsten zu seinen Erlebnissen – er war gewissermaßen in letzter Sekunde aus dem Transportzug ins KZ gerettet worden – während des Holocaust lebenslang schwieg.

Nun habe ich beinahe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir das Recht herausnehme, diese griffige Maxime eines Überlebenden der Shoah, trotz aller selbstverständlichen Zustimmung, doch grundsätzlich zu kritisieren. Und ja, ich sage sogar, dass ich es für überlebensnotwendig halte, das in dieser moralischen Anweisung verborgene Bild des Menschseins abzulegen, um bei der Wahrheit über uns Menschen anzukommen.

Das “Sei ein Mensch!” besitzt natürlich nur dann eine vermeintliche Brauchbarkeit als moralische Richtschnur, wenn man davon ausgeht, dass der Mensch GUT ist. Das mag man hoffen, so wie man es zu einem “grundsätzlich gut” zu relativieren pflegt, sobald man gemerkt hat, dass die Aussage nicht haltbar ist. Aber dann steht man immer noch vor der Frage, was man mit sadistischen Serienmördern wie Adolf Hitler macht, der sich gern Filme vorführen liest, in denen junge Soldaten starben, wozu er dann onanierte. Ich weiß, eine etwas ekelhafte Vorstellung, (Näheres dazu siehe: Volker Elis Pilgrim: Hitler 1 und Hitler 2 – Das sexuelle Niemandsland u. Von der Männerliebe zur Lust am Töten), aber wollen wir so weit gehen, Hitler nicht zu den Menschen zu rechnen, damit wir anderen weiter ein gutes Gefühl haben dürfen, bei der Vorstellung ein Mensch zu sein? Ich gebe es zu, das Beispiel Hitler ist etwas extrem. Darum nehmen Sie einfach einen der typischen Serienmörder von nebenan. Sie wissen vermutlich, obwohl man es gern verdrängt, dass das Land voll von ihnen ist. Aktiv sollen zwar in Deutschland zur Zeit höchsten 10 sein, aber beruhigend ist auch das nicht. Also Gretchenfrage: gehören diese Täter in die Vorstellung, die Sie sich von der Menschheit bzw. dem Menschsein machen? Zum Hintergrund, der gemeint ist, wenn gefordert wird “Sei ein Mensch!”?

Wenn nicht, dann machen Sie den selben Fehler, den die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Berichterstattung von den Eichmann-Prozessen in Jerusalem machte, und der sie folgern ließ, dass Eichmann sich mit seinen Taten “außerhalb der Menschheit” gestellt habe.

Wir können auch Stalin nehmen, dem die Millionen Toten, die er zu verantworten hatte, einfach Spaß machten, wenn das leichter zu verdauen ist. Er liebte es auch, eigene Fehler anderen anzulasten, die er dann dafür hinrichten ließ. Oder wie wäre es, wenn wir, um zeitlich in der Gegenwart anzukommen, direkt die Mörder der Hamas vom 7. Oktober nehmen, ihre Mittäter von der UN nicht zu vergessen. Wollen wir ihnen allen “Sei ein Mensch!” zurufen? Oder sind die dafür ungeeignet? Haben sie sich alle außerhalb der Menschheit gestellt?

Ich denke, Sie ahnen zumindest, was ich meine, auch wenn es Ihnen nicht gefällt. Aber um es explizit zu machen: Meiner Ansicht nach werden wir niemals begreifen, was wir Menschen für eine Spezies sind, wenn wir nicht zugeben, dass all diese Mörder zu uns gehören, dass es ein außerhalb der Menschheit nicht gibt, sodass wir unseren Kindern nicht den braven Ratschlag “Sei ein Mensch!” auf den Lebensweg geben können. Wenn schon solche Faustformeln für den moralischen Kindergarten, dann doch wohl eher: “Sei vorsichtig, denke immer daran, das wir Menschen sind!” Für unsere Mitgeschöpfe auf diesem Planeten, die Tiere, sind wir eh Mörder und Kannibalen, allesamt.

Auch Autoren befassen sich ungern mit dieser Tatsache, man kann damit nämlich keine Leser gewinnen. Heinar Kipphardt hat es in seinem Schauspiel “Bruder Eichmann” trotzdem getan. Ich weiß, lange her, lange tot, aber man kann es noch lesen und dabei etwas begreifen – über sich selbst, wohlgemerkt, nicht über die bösen anderen. DENN ES GIBT KEINE ANDEREN. Es gibt nur uns selbst, uns Menschen. Und keinen Gott, der uns vor uns selbst schützen könnte, und wenn wir noch so laut schrien.

Oder lesen Sie Jonathan Littells grandiosen Roman “Die Wohlgesinnten”. Littell erzählt Euch, Ihr Menschenbrüder, wie es gewesen ist. Ich schwöre, es ist ein Buch, das auch Eichmann nur mit hundertprozentiger Zustimmung hätte lesen können.

Von meinen eigenen Büchern will ich hier nicht reden/schreiben. Aber ich verspreche, morgen schreibe ich wieder etwas, das leichter zu ertragen ist. Versuchen Sie bis dahin

glücklich zu bleiben
Ihr PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

2 Kommentare

  • Matthias Schiffner

    Danke für den Stein, den du ins Wasser geworfen hast. Er bringt mich dazu, eine kleine Welle etwas weiterzuverfolgen. Grundsätzlich geht die Floskel “Sei ein Mensch” (was denn sonst, denkt man*frau da) wohl von der Annahme aus, dass moralisch betrachtet der Mensch kein Unmensch sein solle. Und dass Hitler, Stalin & Konsorten als sogenannte Unmenschen betrachtet werden, dient sicher neben der postulierten Existenz einer Unmenschlichkeit ebenso auch der psychischen Entlastung (nicht zu ihnen dazuzugehören).Aber gibt es eine Grenze zwischen Mensch und Unmensch? Ist es die Befolgung der 10 Gebote oder der Paragrafen des BGB? Aber nein, das bürgerliche oder unbürgerliche Recht hat in der Frage wohl wenig zu suchen. Wie sieht es mit unserer Politik aus? Ist die Bezahlkarte für Flüchtlinge, die es nach D geschafft haben, nicht praktizierter Sadismus? Erst recht, das Nichtretten von Schiffbrüchigen aus dem Mittelmeer? Nicht ohne Erschrecken ist zu Coronazeiten die Frage der Triage hochgekommen (die im Alltag schon längst selbstverständlich war). Aber was ist, wenn Moral oder ethische Fragen über alles andere gestellt werden? Ist das angemessen für einen “Mensch”?
    Wie hoch ist der Anteil des “freien Willens” an den Handlungen der Menschen? Auch nach über 15 Jahren Tätigkeit als Schöffe/Laienrichter kann ich häufig nur eine gewisse Hilflosigkeit in der Beurteilung dieser Frage feststellen (auch bei den Berufsrichtern).
    Mein Zwischenfazit heute: Die Kategorie “Mensch” im dort gebrauchten Sinn halte ich für wenig zielführend. Oder “Kindergarten”, wie du schreibst. Aber meines Erachtens rekurriert sie unter der Hand darauf, dass die pure Hoffnung besteht, jemand könne sich so verhalten, dass er*sie 1. sich nach freiem Willen entscheiden kann und 2. dies auch noch so zu tun, als ob er*sie dabei nicht allein den puren, subjektiven Vorteil im Blick hat, sondern auch die “Mitmenschen” bzw. “Mittiere” und 3. seine Grundüberzeugungen/Ideologien so hinterfragt, dass sie zu ethischen Gesichtspunkten nicht völlig konträr gehen.
    Nur, wie komme ich zu ethischen Prinzipien? Und allem anderen? Die Welle verläuft sich gerade…

    • admin

      Ja, all diese weiterführenden Spritzer der kleinen Welle sehe ich auch, lieber Matthias. Und Lösungen habe ich ebensowenig wie moralische Richtlinien, die uns alle auf den rechten Weg führen könnten.
      Es geht mir darum im Grunde nur um zwei Punkte: Erstens, dass wir nicht glauben sollten, zu den Guten zu gehören, nur weil das Leben uns bisher zufällig noch nichts zu tun abverlangt hat, das uns auf die andere Seite versetzt hätte. Man sollte immer den Satz des Sophokles im Kopf haben “Ungeheuer ist viel, doch nichts ungeheurer denn der Mensch.” (aus dem Gedächtnis).
      Und zweitens, dass es die Umstände sind, die uns zum einen oder anderen machen. Das zeigt die Holocaust-Forschung ja sehr deutlich, z.B. das immer wieder mit Erstaunen betrachtete Phänomen, das “ganz normale Menschen” zu Tätern wurden. Darum sage ich, normal ist eben beides. Und der ‘freie Wille’, so es ihn gibt, entscheidet nur selten.
      Mein Stück über Demjanjuk stellt ja die Frage, wie man dahin kommt. Aber es ist halt ein schwieriges Thema, wenn man sich damit auseinanderzusetzen versucht. Da ist man schnell allein.
      PS: Ich hab übrigens nichts gegen Kindergarten-Moral. Irgendwo muss es ja anfangen, denn in der DNA habe wir die Moral schon nicht.

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