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75. Jahrestag der Befreiung des deutschen NS-Vernichtungslager Auschwitz

»Normale Menschen wissen nicht, dass alles möglich ist.
Selbst wenn die Berichte der Zeugen ihren Verstand zwingen,
es anzuerkennen, ihre Knochen glauben es nicht.
Die KZler wissen es. Unter den KZlern wohnte der Tod
in jeder Stunde ihres Daseins. Er hat ihnen
all seine Gesichter gezeigt. Sie haben erfahren,
wie er einen Menschen auf jede erdenkliche Weise
entkleiden kann. Sie haben die obsessive Präsenz
einer allgegenwärtigen Ungewissheit erlebt,
die Erniedrigung durch Schläge, die Schwäche
des Körpers unter der Peitsche, die Verheerungen
des Hungers. Sie haben über Jahre in den
phantastischen Kulissen einer Welt gelebt,
in der alle Würde vernichtet war. Sie sind
von den anderen Menschen durch eine Erfahrung
getrennt, die nicht weitergegeben werden kann.«
David Rousset

In der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem haben heute am Donnerstag die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz begonnen. Mehr als 40 Staatsgäste sowie rund hundert Holocaust-Überlebende kamen in Jerusalem zu dem historischen Treffen zusammen. Auf Einladung von Israels Präsident Reuven Rivlin hält Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als erster deutscher Bundespräsident eine Rede in der nationalen Gedenkstätte.

Hier die Rede im Wortlaut:

„Gepriesen sei der Herr, […] dass er mich heute hier sein lässt.“
Welche Gnade, welches Geschenk, dass ich heute hier in Yad Vashem zu Ihnen sprechen darf.
Hier in Yad Vashem brennt die ewige Flamme der Erinnerung an die Toten der Shoah.
Dieser Ort erinnert an ihr millionenfaches Leid.
Und er erinnert an ihr Leben – an jedes einzelne Schicksal.
Dieser Ort erinnert an Samuel Tytelman, ein begeisterter Schwimmer, der bei Makkabi Warschau Wettkämpfe gewann, und an seine kleine Schwester Rega, die ihrer Mutter beim Kochen für den Schabbat half.
Dieser Ort erinnert an Ida Goldiş und ihren dreijährigen Sohn Vili. Im Oktober wurden sie aus dem Ghetto Chișinău deportiert, und im Januar, in bitterster Kälte, schrieb Ida ein letztes Mal an ihre Eltern und an ihre Schwester: „Ich bedaure aus tiefster Seele, dass ich beim Abschied die Bedeutung des Augenblicks nicht erfasste, […] dass ich Dich nicht fest umarmt habe, ohne loszulassen.“
Deutsche haben sie verschleppt. Deutsche haben ihnen Nummern auf die Unterarme tätowiert. Deutsche haben versucht, diese Menschen zu entmenschlichen, zu Nummern zu machen, im Vernichtungslager jede Erinnerung an sie auszulöschen.
Es ist ihnen nicht gelungen.
Samuel und Rega, Ida und Vili waren Menschen. Und Menschen bleiben sie in unserer Erinnerung.
Hier in Yad Vashem wird ihnen – wie es im Buch des Propheten Jesaja heißt – „ein Denkmal und ein Name“ gegeben.
Vor diesem Denkmal stehe auch ich als Mensch – und als Deutscher.
Ich stehe vor ihrem Denkmal. Ich lese ihre Namen. Ich höre ihre Geschichten. Und ich verneige mich in tiefer Trauer.
Samuel und Rega, Ida und Vili waren Menschen.
Und auch das muss ich hier und heute aussprechen: Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche.
Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte – es wurde von meinen Landsleuten begangen.
Der grausame Krieg, der weit mehr als 50 Millionen Menschenleben kosten sollte, er ging von meinem Lande aus.
75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld. Doch zugleich bin ich erfüllt von Dankbarkeit: für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt, für das wieder erblühte jüdische Leben in Deutschland. Ich bin beseelt vom Geist der Versöhnung, der Deutschland und Israel, der Deutschland, Europa und den Staaten der Welt einen neuen, einen friedlichen Weg gewiesen hat.
Die Flamme von Yad Vashem erlischt nicht. Und unsere deutsche Verantwortung vergeht nicht. Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen.
Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht.
Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.
Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit. Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.
Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.
Natürlich: Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter.
Aber es ist dasselbe Böse.
Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Niemals wieder!
Deshalb darf es keinen Schlussstrich unter das Erinnern geben.
Diese Verantwortung ist der Bundesrepublik Deutschland vom ersten Tage eingeschrieben.
Aber sie prüft uns – hier und heute!
Dieses Deutschland wird sich selbst nur dann gerecht, wenn es seiner historischen Verantwortung gerecht wird:
Wir bekämpfen den Antisemitismus!
Wir trotzen dem Gift des Nationalismus!
Wir schützen jüdisches Leben!
Wir stehen an der Seite Israels!
Dieses Versprechen erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt.
Und ich weiß, ich bin nicht allein. Hier in Yad Vashem sagen wir heute gemeinsam: Nein zu Judenhass! Nein zu Menschenhass!
Im Erschrecken vor Auschwitz hat die Welt schon einmal Lehren gezogen und eine Friedensordnung errichtet, erbaut auf Menschenrechten und Völkerrecht. Wir Deutsche stehen zu dieser Ordnung und wir wollen sie, mit Ihnen allen, verteidigen. Denn wir wissen: Jeder Friede bleibt zerbrechlich. Und als Menschen bleiben wir verführbar.
Verehrte Staats- und Regierungschefs, ich bin dankbar, dass wir heute gemeinsam bekennen: A world that remembers the Holocaust. A world without genocide.
„Wer weiß, ob wir noch einmal den zauberhaften Klang des Lebens werden hören können? Wer weiß, ob wir uns in die Ewigkeit werden einweben können – wer weiß.“
Salmen Gradowski schrieb diese Zeilen als Häftling in Auschwitz und er vergrub sie in einer Blechbüchse unter einem Krematorium.
Hier in Yad Vashem sind sie eingewoben in die Ewigkeit: Salmen Gradowski, die Geschwister Tytelman, Ida und Vili Goldiş.
Sie alle sind ermordet worden. Ihr Leben ging im entfesselten Hass verloren. Aber die Erinnerung an sie besiegt das Nichts. Und das Handeln, unser Handeln, besiegt den Hass.
Dafür stehe ich. Darauf hoffe ich.
Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker