Literatur

Worüber man gemeinhin schweigt – oder wie man Dichter wird

Sonntag, 7. Februar 2021, bei Camille Saint-Saens’ “Samson et Dalila”, unter Myung-Whun Chung

Vermutlich könnten Sie selbst aus dem Stegreif Beispiele für das anführen, worüber man gewöhnlich schweigt. Wir sind ja gerade in den letzten Jahren verstärkt von einer vermeintlich offenen Gesellschaft zu einer geworden, die jede Woche neue Tabus aufrichtet, bis in die Grammatik hinein – und alles sogar im Namen der Gleichheit und Freiheit.

Aber das meine ich nicht, obwohl es höchst wichtig ist. Es gibt nämlich noch eine, gewissermaßen tiefer liegende, Schicht von Dingen, über die es zu schweigen gilt; sie reicht bis ins Metaphysische. Es existiert das Unaussprechliche. Es gibt den Bereich, der mit Redeverboten und Schweigegeboten versiegelt ist. Sie haben gar philosophische Ehren empfangen. Selbst Menschen, die nie eine Seite Text aus Ludwig Wittgensteins “Tractatus logico-philosophicus” gelesen haben, kennen vom Hörensagen sein Verdikt

“Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.”

Sicher, es ging ihm um die Bereinigung der Sprache, um die logische Struktur der Sprache, um eine Welt von Tatsachen, in die er sich gern gerettet hätte. Aber er wusste auch sehr gut, dass er in einer Welt lebte, in der seine Homosexualität zu den Unaussprechlichkeiten gehörte, über die man schweigen musste. Und gar seine zeitweiligen sadistischen Anwandlungen.

Nun, aber das wissen wir ja alle. Das, worüber man nicht sprechen kann, beginnt für die meisten Menschen bekanntlich unter der Gürtellinie. Was für eine Welt liegt zwischen Ludwig Wittgenstein und dem zwanzig Jahre jüngeren Jean Genet, auch sozial. Vielleicht ist es sogar der kaum zu beschreibenden sozialen Differenz zwischen dem Waisenhauskind Genet, das früh zum Dieb wurde, und dem privilegierten Spross eines Großindustriellen zu verdanken, dass sich Genet am Ende als Schriftsteller wählte und eine Sprache erkämpfte, in der er all das sagen konnte, was Wittgenstein zum Schweigen verurteilte.

Die Welt sei “alles, was der Fall ist“, sagte Wittgenstein. Und dann untersuchte er die logische Struktur dessen, was der Fall ist, der Welt. Aber in der Welt und dem Leben der Menschen ist vor allem auch das Leiden “der Fall“, das Chaos, die Lüge, die Bosheit, die Not, vor allem auch die sexuelle, der Rausch, die Hoffnung, der Tod, der Schmutz und all die anderen Dinge, die die guten, sauberen Menschen so unaussprechlich finden. Lauter Unaussprechlichkeiten. Und nichts davon hat eine logische Struktur, kann also demnach in einer logisch gereinigten Wissenschaftssprache nicht vorkommen, muss mit Schweigen übergangen werden,

Muss es das? Nein, natürlich nicht. Und Genet wird es übernehmen. Aber dafür muss er sich als einen öffentlich Sprechenden neu erfinden, darum wird der schon seit früher Kindheit so vielfach ausgestoßene und verurteilte Außenseiter Schriftsteller, Dichter, das heißt, der Kern seiner Identität kondensiert um die Sprache, die außerhalb des gesellschaftlich verordneten Schweigens zu wuchern beginnt und alles ausspricht, was den guten Menschen um ihm herum nicht über die Zunge kommt, die Sprache, die den Palisadenzaun der Tabus einreist, wird seine neue und nun wirklich erste Identität. Jetzt kann er wie Franz Kafka, wenn er die impertinente Aufforderung erhält, sein Leben zu erklären, sagen: Da ich nichts anderes bin als Literatur und nichts anderes sein kann und will.

Damit hat er sich gerettet, damit hat er alle anderen zurückgelassen, dort in ihren kleinen, sauberen, logisch gestrickten Nistkästen, mit ihren Schubladen, voll von den Dingen, über die sie nicht sprechen können und deshalb schweigen müssen.

So geschieht es. Seien Sie froh, wenn es Ihnen nicht so geht.
Und bleiben Sie, natürlich, glücklich
wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker