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Vom Sehen der Bilder der Welt

Wiesbaden, Mittwoch, 19. Dezember 2012

Ich schaue gern Dokumentationen, vor allem Naturfilme, Tiere, Menschen, Länder, denn das eigene Leben ist ja viel zu kurz, um den Planeten auch nur ansatzweise zu sehen. Doch fällt mir mehr und mehr auf, dass diese Filme wohlfeil zu werden beginnen. Ganz so, als habe man im TV beschlossen uns noch schnell etwas von den vielen phantastischen Orten unserer Welt zu zeigen, bevor sie im Zuge des Klimawandels untergehen werden. Die Fernsehsender schmücken sich ebenso wie die großformatigen Illustrierten mit den überwältigend schönen Bildern unseres Planeten. Doch ich glaube nicht einmal, dass dadurch eine neue Sensibilität für diese Schönheit entsteht. Es hat vielmehr etwas von der leicht zynischen Art und Weise, mit der man damals zur Zeit des so genannten ‘Nato-Doppelbeschlusses’ (erinnern Sie sich noch?) zu sagen pflegte: “Besuchen Sie Europa, so lange es noch steht!”

Nun sah ich eine Dokumentation über Grönland, die geeignet war, einen in die Depression zu treiben. Und dies nicht einmal wegen der unbestreitbaren Tatsache, dass der Klimawandel selbstverständlich auch dort überall sichtbar ist. Was an diesem Film vielmehr vor allem bedrückte, das war die erschreckende Situation, in der die Inuit dort leben. Der Film beeilte sich übrigens darauf hinzuweisen, dass die Inuit früher Eskimos genannt worden seien. Inuit sei ihre eigene Bezeichnung. Wenigstens den korrekten Namen sollten wir doch einem aussterbenden Volk gönnen.

Der Film begann damit, dass die Dorfbewohner, die, von ein oder zwei letzten Jägern abgesehen, alle von dänischen Sozialleistungen leben, einen kaum vierzehnjährigen Jungen beerdigten, der sich selbst umgebracht hatte. Die Selbstmordrate unter den jungen Inuit sei ungeheuer groß, hieß es. Sie scheinen für sich selbst keinerlei Perspektive zu sehen, denn das Fernsehen zeigt ihnen die große, bunte Welt jenseits des Grönländischen Packeises, jenseits von Robbenjagd und der monatelangen Dunkelheit der Wintermonate, ohne dass ihnen der Weg dorthin offen steht.

Die Inuit Siedlung Cape Dorset

Etwa in der Mitte des Filmes wurde dann eine zweite Beerdigung gezeigt, da sich erneut ein Bewohner des Dorfes umgebracht hatte, ein Sechzehnjähriger. Und tatsächlich endete dann der Film sogar mit einem dritten Selbstmord. Der ebenfalls sechzehnjährige Sohn des Jägers, der die Hauptfigur in diesem Film abgegeben hatte, brachte sich um. Er hinterließ einen kurzen Abschiedsbrief mit den Worten “Ich kann nicht mehr.”

Tage zuvor waren sein Vater und zwei andere Jäger mit ihm auf die Jagd gegangen. Sie waren mit drei Schlittenhundgespannen die Ostküste hinauf gefahren, um Robben zu jagen. Sie hatten dann jedoch wegen des verfrüht einsetzenden Tauwetters keine Robben mehr vorgefunden. Der Junge, er hieß wohl Thomas, der sich dann nach der Rückkehr ins Dorf umbrachte, hatte auf dieser Jagd das Privileg, die erste Robbe zu erschießen. Da jedoch infolge des Tauwetters die Robben fehlten und die Jagdgruppe auch schnell ins Dorf zurück musste, um nicht mit den Hundegespannen ins schmelzende Eis zu geraten, so wurde für Thomas nur pro forma die Situation des ersten Schusses inszeniert. Man hieß ihn, auf einen Eisberg zu schießen. Natürlich schoss er prompt daneben! Die anderen Jäger tätschelten ihm ebenso wie sein Vater den Kopf, lachten über ihn und sagten, dass er nie ein Jäger werden würden.

Na prima, das wurde er dann ja auch nicht! Er beging stattdessen Selbstmord. So wie seine Freunde und gleichaltrigen Kameraden zuvor. Es war der dritte Selbstmord in diesem Grönlandfilm.

Nimmt man das Ernst, so darf man wohl nicht mehr einfach nur von einem Klimawandel reden. Man müsste vielmehr sagen, dass der von Menschen verursachte Klimawandel zugleich eine Waffe ist, mit der ein Genozid an den indigenen Völkern unseres Planeten betrieben wird. Selbst dann, wenn sie körperlich überleben sollten, etwa deshalb, weil das dänische Sozialsystem auch den Inuits ein minimales Restleben gestattet, werden sie kulturell und in ihrem eigenen Bewusstsein sterben. So wie jetzt schon ihre Kinder sterben, weil sie nicht mehr weiter wissen, weil in dieser Welt für sie keinerlei Perspektive vorhanden ist.

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker