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Die Stadt der Träume

Er war nun den dritten Tag in Sognocity, in dieser Ruine einer Stadt, die darauf wartete, dass ihre Traumwächter starben, damit sie endlich aufwachen und aus dem Schutt zu neuem Wachstum erblühen konnte.

Er wusste, dass unsere größten Träume am schmerzhaftesten rosten, sodass wir uns aus Angst vor den Schmerzen zu glauben weigern, dass es nur Träume sind. Wir verwechseln sie lieber mit der Wahrheit, auch wenn wir in unseren Herzen wissen, dass es keine Wahrheiten gibt und die Philosophen uns, so sie ehrlich waren, seit dem Anbeginn der Zeiten immer wieder genau das gesagt haben. Wacht endlich auf, haben sie gerufen, begreift, dass die einzige Wahrheit die ist, dass es keine gibt. Wacht auf, verlasst den heimtückischen Traum von der Wahrheit, der so viele Menschen vor euch unglücklich gemacht hat und so viele nach euch noch unglücklich machen wird.

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Aber wie alle hatte auch er selbst in jungen Jahren viel lieber auf die Verkäufer der Träume gehört, die ihnen weismachten, dass der gerade neueste Traum nun endlich wirklich die Wahrheit sei. Und als er wie die anderen darin gefangen war, weil er dem Traum zustimmte, da hatte er gesehen, wie an den Grenzen des Traumlandes die Regimenter der Traumwächter aufmarschierten, wie die Traumpolizei in die Kasernen einzog, die Kinder in den Schulen nur noch von Traumlehrern unterrichtet wurden, die nichts als die absolut reine Traumlehre lehrten und überall, in der Nachbarschaft wie in der eigenen Wohnung, die als Freunde, Geschwister und Ehepartner getarnten Traumagenten einzogen, die jedes seiner Traumvergehen aufzeichneten.

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Im Osten der Stadt hatte es ein großes graues Gebäude gegeben, das er selbst für sich das Ministerium der Angst genannt hatte. Aber er wusste natürlich, dass es offiziell als Ministerium der Traumsicherheit bezeichnet wurde. Nur unzuverlässige Abweichler wie er, Verräter, die die falschen Träume hatten, bezeichneten es anders. Reguläre Träumer des Staatstraums hatten aus diesem Ministerium nichts zu befürchten. Reguläre Träumer wussten, dass es sie nur überwachte, um sie besser beschützen zu können.

Damals hatte er überlegt, was er tun sollte, denn natürlich hatte man ihm angetragen, selbst in die Reihen der Traumpolizei zu wechseln. Und war nicht das Argument, dass man nur dann vor der Verfolgung sicher sei, wenn man selbst zu den Verfolgern gehörte, zwingend? Letztlich hatte er sich dazu nicht bereit finden können, allerdings nicht, weil er so viel besser gewesen wäre. Er war einfach ein Zweifler, also das, was die herrschenden und beherrschten Träumer am meisten fürchten. Und er zweifelte deshalb auch daran, dass es ihm gelingen würde, sich weit genug zu verstellen, um nicht als Zweifler aufzufallen. Träumer hassen Zweifler. Und Zweifler sind die einzigen, die unfähig sind, sich zu tarnen. Zumindest für lange Zeit.

Also war er damals geflüchtet, als sich die Gelegenheit bot. Für seine träumenden Freunde war er in das feindliche Lager des Traumfeindes gewechselt. In Wahrheit war er lediglich heimatlos geworden, denn wer wollte leugnen, dass Träume, so falsch sie auch sein mögen, zumindest eines zu schenken vermögen, das Gefühl von Heimat. So wurde er ein traumlandloser Geselle, wie die Traumwächter an den Grenzen des Traumlandes die Abtrünnigen nannten, die es, auf welchen Wegen auch immer, geschafft hatten, dem einzig gültigen Staatstraum zu entkommen.

Und so heimatlos hatte er hinfort gelebt, zweifelnd, immerfort zweifelnd, auch den eigenen Zweifel bezweifelnd, bis er vor drei Tagen nach Sognocity zurückgekehrt war und seine ehemaligen Traumfreunde auf den Ruinen ihrer Träume vorgefunden hatte.

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Was soll nun werden, fragte er. Der Oberträumer war inzwischen sehr alt geworden und sollte bald sterben. Was wird dann geschehen, fragte er? Wir wissen nichts von ihm, sagten seine Freunde, wir sprechen nicht über ihn. Aber er hat doch gerade im Radio geredet? Und in der Stadt fahren immer noch die grauen Autos seiner Traumpolizei herum. Man wird sehen, sagte man ihm.

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Jetzt war er drei Tage hindurch in der Stadt unterwegs gewesen. Er konnte kaum noch gehen, und wenn er Treppen steigen musste, die in die zerbrochenen Gebäude von Sognocity hinaufführten, dann ächzten seine alten Knochen, Knochen, die alt geworden waren, während er an den Wahrheiten der Welt gezweifelt hatte.

Er wusste, dass seine alten Freunde, ihm nicht den Zweifel an sich übel nahmen. Nur den Zweifel an ihrem eigenen Traum, den sie für den fortschrittlichsten von allen hielten und von dem sie sogar meinten, es handele sich bei ihrem Traum um eine Wissenschaft, den hielten sie für verachtenswert, denn nur ein sehr unbelehrbarer Traumfeind kann an einer wissenschaftlichen Wahrheit zweifeln. Doch da auch seine alten Freunde inzwischen morsche Knochen hatten und deshalb nicht mehr spontan bereit waren, jeden unverbesserlichen Traumfeind vor die Wand mit den Einschusslöchern zu schleppen, kam es doch zu manchen Umarmungen.

Natürlich misstrauten sie ihm auch weiterhin, aber da die Traumpolizei nicht mehr so wachsam wie früher und die alte Freundschaft doch stärker als gedacht war, beschränkten sie sich bis zum endgültigen Untergang der Traumstadt darauf, dass man miteinander essen und trinken könne, ohne etwas voneinander befürchten zu müssen.

Darüber war er froh, denn er war inzwischen recht einsam geworden, so allein mit seinem Zweifel. Doch auch der Zweifel ist letztlich ein verlässlicher Freund, den er am Ende seines Lebens nicht mehr enttäuschen wollte. Nehmt mich, wie ich bin, sagte er deshalb zu ihnen, anders bekommt ihr mich nicht mehr.

 

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker