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Und wenn der Dreck hängenbleibt?

Venedig, Donnerstag, 09. Februar 2017, bei 'Works for Solo Instrument and Orchestra' 
von Edouard Lalo, mit u.a. Ruggiero Ricci, Violine

“Es lohnt den Versuch”, schreibt Adorno in seinem ‘Versuch über Wagner’, “die Haufen von Abfall, Schutt und Unrat zu betrachten, auf denen die Werke bedeutender Künstler sich zu erheben scheinen, und denen sie, knapp Entrinnende, etwas von ihrem Habitus doch verdanken.”

Aber ist das denn richtig? Lohnt es tatsächlich den Versuch? Und entrinnen sie, die Werke/die Künstler? denn wirklich, wie wahrhaft ‘knapp’ auch immer? Und falls die Künstler selbst schon nicht entrinnen, wir sie also ihren Haufen von Abfall, Schutt und Unrat, die ihre Leben, ihr Denken, ihre Zeitverstrickungen um sie aufgetürmt haben, überlassen müssen, ist dann zumindest das Werk all dem entronnen? Steht am Ende allein das Werk rein da, als habe es sich qua Natur des Werkes frei erhoben, wie die Wand, von der der Regen der Zeit den Dreck abgewaschen hat? Ich zweifle daran doch stark.

Theodor W. Adornos Diktum über den sich lohnenden Versuch findet sich zu Beginn des zweiten Abschnitts seines Essays, in dem er den Wagnerschen “Gestus” untersucht. Der erste Teil untersucht den “Sozialcharakter”, worin Adorno Wagners Antisemitismus in Leben und Werk nachweist, “… all die Zurückgewiesenen in Wagners Werk sind Judenkarikaturen”, “Eigenlob und Pomp – Züge der gesamten Wagnerschen Produktion und Existentialien des Faschismus…”

Ich will hier nicht weiter zitieren; wer der Beispiele mehr und den Zusammenhang möchte, der lese selbst nach. Mir geht es nur um eines, um die grundlegend überall fortgeschriebene Unredlichkeit derer, die sich die Musik nicht nehmen lassen wollen und deshalb, mit welcher Argumentation auch immer, die mögliche Trennung zwischen Kunst/Werk und Leben des Künstlers behaupten. Nein, das ist niemals möglich! Die Bedingungen der Produktion eines Werkes sind dem Werk niemals äußerlich. Und die Persönlichkeit seines Autors durchdringt das ganze Werk. So Werk und Autor überhaupt etwas wert sind, so es um die Sache ernst war. Allenfalls für austauschbare Produkte der Massenkultur mag dies hin und wieder anders sein, aber im Grunde glaube ich nicht mal das.

Was ist Adornos Diktum über den Schutt, aus dem sich das Werk großer Künstler erhebt, also? Es ist ein romantisches Wunschbild und in sich selbst noch eine Blüte aus dem schwülen Treibhaus des Geniekults. Es ist eine Hintertür, durch die er das Werk entwischen lassen will, nachdem er seinen Schöpfer, den ekelhaften Antisemiten Wagner dingfest gemacht hat.

Aber das hat Wagners Musik letztlich gar nicht nötig. Es dient ja auch weniger der Freisprechung des Werks, als der Beruhigung des schlechten Gewissens seiner Hörer. So lange dies so bleibt, wird es nur eine gänzlich unreife und unhistorische Wagnerrezeption geben. Ich erwarte nicht, dass jeder Opernbesucher vorher Wagners Aufsatz “Aufklärung über das Judentum in der Musik” liest, in dem er alle Widerstände gegen sein Werk auf ‘erfundene jüdische Konspirationen zurückführt’ (Adorno), aber wer etwa die gedemütigten, erniedrigten Zwerge Alberich und Mime auf der Bühne anschaut und nicht begreift, was diese von ihrem Schöpfer denunzierten Figuren mit den “Untermenschen” der Nazi-Propaganda, mit dem Rassenwahn des Hitler-Faschismus zu tun haben, der hat noch gar nichts begriffen.

Darum mein Rat, hören Sie Wagner. Kein Problem, ich habe selbst so viel Wagner in meinem Leben gehört, dass ich das schwerlich rückgängig machen kann. Aber verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass es nur um Musik gehe, dass Sie ein reines Werk genießen können, dem der Schutt aus dem es erwuchs, nicht mehr anhaftet. Der Dreck bleibt immer hängen. Sie müssen bloß hinschauen. Alles ist da. Nichts ist verborgen. Und wenn Sie das tun, dann werden Sie vielleicht sogar feststellen, dass es wirklich den Versuch “lohnt” Wagner zu hören. Man kann da nämlich richtig etwas lernen!

Wagner, das sind nicht nur stunden- und tagelange musikalische Vernebelungsaktionen, in denen man mit der Abo-Karte in der Tasche dahintreibt, während man von mythologischen Göttern, Riesen und Zwergen angesungen wird. Wagner, das ist immer wieder ein tiefer Blick in den Abgrund der deutschen Seele und Geschichte. Schauen Sie hin! Wagen Sie es!

Und jetzt zurück zum sonnigen Donnerstag der heutigen Gegenwart.
Ich wünsche Ihnen was, von Herzen

Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker