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Ein später Brief

Venedig, Donnerstag, 23. Februar 2017, bei etwas Nebel über der Lagune und den 
"Quattro Pezzi Sacri" von Verdi, mit dem Philharmonia Chor und Orchester London
unter Carlo Maria Giulini und mit dem wunderbaren Alt von Janet Baker

Gestern beantwortete ich in einer Art von Übermut den Brief einer alten Freundin, der mir am 25. Januar 2015 geschickt worden war, also ziemlich genau vor zwei Jahren und einem Monat. Warum? Warum so spät? Und warum überhaupt?

Nun ist es nicht so, dass ich dauernd haufenweise Briefe bekäme. So altmodisch bin selbst ich nicht. Die Welt kennt, seit sie mit Mails, SMS, iMessage, WhatsApp und Konsorten überschwemmt ist, Briefe, die im Postkasten an der Haustür ankommen, ja eigentlich nur noch in Form von Werbemüll oder amtlichen Drohungen, also etwa vom Finanzamt. Das ist auch bei mir nicht anders. Außerdem hatte sie mir noch nie geschrieben. Und gesehen haben wir uns zuletzt im Dezember 1988, bevor ich nach Rom umzog.

Vor bald dreißig Jahren also. Nicht schlecht. Und sie schrieb zudem eher beiläufig, erkundigte sich nach einer Adresse einer anderen Freundin, die ich aber auch nicht habe, fragte kurz, ob bei mir alles in Ordnung sei etc., ganz als schrieben wir uns mindestens alle vierzehn Tage. Aber sie war immer schon von der etwas trockenen Art gewesen, ihr schienen Dinge normal, die andere Menschen leicht makaber finden. Das hatte gut dazu gepasst, dass sie Kriminalromane schrieb, was sie, wie ich ihrer Post entnehmen konnte, seit dem Jahr 2000 nicht mehr tat.


In der Hauptsache enthielt ihre Sendung aber Fotokopien von Zeitungsartikeln, Rezensionen usw., über literarische Projekte, die wir gemeinsam durchgeführt hatten. Und außerdem ein nun wahrlich etwas makaberes Herzstück, nämlich eine vielseitige Auflistung von früheren gemeinsamen Freunden und Autorenkollegen, über 80 Namen aus unserer gemeinsamen Vergangenheit fand ich da, fein säuberlich handschriftlich abgefasst und nach Kategorien eingeteilt wie “lebt noch/ist am …  gestorben” und “schreibt noch/ schreibt nicht mehr” oder “letzte Publikation 2004”. Ob sonst noch jemand von den Beobachteten wusste, was sie da tat? Bei mir selbst hätte sie zum Zeitpunkt, da sie mir dies schickte, fünf neue Bücher seit 2011 vermerken können. Die fehlten jedoch, dafür hatte sie festgehalten, dass ich jetzt “bartlos” sei, also musste sie irgendwo Bilder von mir gesehen haben. Auch sich selbst hatte sie in diese Schicksalsliste aufgenommen. Nach dem Vermerk “ab 2000 nichts mehr” war lediglich noch notiert, dass sie die “Krolow-Briefe an Marbach verkauft” habe. Mich erinnerte das daran, dass ich im Keller noch irgendwo, wohl verwahrt, eine Kopie dieser Krolow-Briefe liegen haben muss. Natürlich ist Krolow auch längst tot, aber schon so lange, dass er in ihrer Liste nicht mehr auftaucht.

Tja, das kam also im Januar 2015 bei mir an. Vielleicht hätte ich eher darauf reagiert, wenn sie eine Mail-Adresse besessen hätte. Ich suchte natürlich auch im Internet, ob es eine Webseite gab, aber da war nichts. Und obwohl ich ihre Post die ganzen zwei Jahre über immer in meiner Nähe hatte, im Regal mit der jeweiligen Handbibliothek des Projektes, an dem ich gerade arbeitete, so habe ich mich doch erst am gestrigen Nachmittag dazu durchgerungen, ihr zu antworten. Es wurde ein richtiger Postbrief, wie ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr geschrieben hatte.

Und nun warte ich auf eine Antwort, nachdem ich sie so lange auf meine Antwort habe warten lassen. Lebt sie überhaupt noch? Falls ja, so wird sie im kommenden April 73 Jahre alt werden. Ach, das Briefeschreiben ist ein seltsames Ding. Ich verstehe schon, warum die digital gezeugte Generation das nicht mehr tut. Aber falls sie mir antworten sollte, so würde ich mich sehr darüber freuen. Und ganz bestimmt werde ich dann darauf auch schneller antworten.

Das verspricht Ihr

PHG

PS: Probieren Sie es selbst mal aus. Schreiben Sie jemandem einen richtigen Brief, vorzugsweise handschriftlich. Möglich, es gibt jemanden, der sich darüber freuen würde. Und vielleicht erhalten Sie dann in einzwei Jahren eine überraschende Antwort. Ich wünsche es Ihnen

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker