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Weiße Göttin

Wiesbaden, 5. Juni 2015, bei Mozarts “Le nozze di Figaro” von ‘La Grande Écurie & La Chambre du Roy’ unter Jean-Claude Malgoire

Da ich mein Schreibprojekt für den Sommer vorbereite, für das ich im August auf Recherchen-Reise gehen werde, habe ich in alten Entwürfen nach einem Manuskript gesucht, das ich im August 1990 – während des bis dahin größten Desasters meines Lebens – nach etwas über 100 Seiten abbrechen musste. Ich habe das Gefühl, dass das damals verlassene Buch es verdient hat, wieder aufgenommen und beendet zu werden.

Dabei fand ich auf einem kleinen Zettel auch eine Bleistiftnotiz, die ein Gebet bzw. eine Anrufung an die “Weiße Göttin” enthält. Ich habe diese Anrufung der Muse/Mondgöttin jetzt erstmals in eine lesbare Form gebracht und veröffentliche sie hier, um auf diese Weise meine Verbindung mit der Göttin zu erneuern.

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Nach dieser Anrufung werde ich noch einige erklärende Zeilen aus Robert von Ranke-Graves’ großer Untersuchung “Die weiße Göttin” zum poetischen Mythos der magischen Sprache folgen lassen.

Weiße Göttin
Lange Nächte, in denen ich
die Sprache wiederzufinden trachte.
Hohler Donner am Himmel.
Und das Gejaule der Unterwelt.
Hekate, die Weiße Göttin in Schwarz,
hält alles in Bann.

Wo sind die Schlüssel
der Träume, in denen ich sehend
taumele durch tote Geburt und
die Felder der Verwesung,
wo die Schädel und Kadaver der Dichter
in toten Eiben hängen.

Das Dichten ist das gefährlichste
Geschäft; wenige verstehen es,
noch weniger überleben es.
Tod und Geburt sind dein.
Eine Spirale, die von außen
nach innen läuft und zurück.

Ich weiß das alles, aber
wenn ich Dich anrufe, wie begegnest Du mir?
Dir dienend und nicht tragfähig
befunden werden. Das vermag ich
nicht zu ertragen.
Gib mir die Reinheit zurück.

Ja, ich schreibe hier Zaubersprüche auf.
Aber die Menschen haben sich
so weit von Deiner Kraft entfernt,
dass ich Deinen Namen kaum aussprechen kann.
Erscheine mir in der Glut Deiner Kraft!
Zeige mir den Weg der Dichtung,

Durch die Du einzig lebst,
in diesem Zeitalter des Unwissens.
Nicht betrete ich Dein Haus mit zwölf Gefährten.
Ich betrete es allein,
gewahr Deiner Kraft.
Weise mich nicht zurück!

(Schöppingen, 19. Juni 1990)

Ranke-Graves schreibt: “Meine These ist, daß die Sprache des einst am Mittelmeer und im nördlichen Europa verbreiteten poetischen Mythos eine magische Sprache war, vermischt mit populären religiösen Zeremonien zu Ehren der Mondgöttin oder der Muse, deren einige bis auf die ältere Steinzeit zurückreichen; und daß diese noch immer die Sprache wahrer Dichtung bleibt – ‘wahr’ im modernen nostalgischen Sinne des ‘unverbesserbar Originalen, nicht als synthetischer Ersatz’. Diese Sprache wurde in spätminoischer Zeit verfälscht, als …. (     ) Dann kamen die frühen griechischen Philosophen, die der magischen Dichtung feindlich gesonnen waren, weil sie ihre neue Religion der Logik bedrohte, und unter ihrem Einfluß wurde eine rationale poetische Sprache (heute die klassische genannt) zu Ehren ihres Schutzgotts Apoll erfunden und der Welt als letztes Wort der geistigen Aufklärung aufgezwungen; eine Auffassung, die seit damals praktisch beherrschend ist an den europäischen Schulen und Universitäten, wo die Mythen heute nur als wunderliche Relikte aus dem Kindergartenalter der Menschheit studiert werden. ….. (     )

Ich wage einzig eine historische Formulierung des Problems; wie ihr euch zur Göttin stellt, ist nicht meine Sache. Ich weiß ja nicht mal, ob ihr euren Beruf zum Dichter ernst nehmt.”

(Robert von Ranke-Graves “Die weiße Göttin”, Medusa Verlag, Berlin, 1981)

Möglicherweise kommt Ihnen die ganze Geschichte etwas abwegig vor: Göttinnen, Steinzeit und dann auch noch ‘wahre Dichtung’. Falls es Ihnen damit so geht, verbuchen Sie es einfach unter ‘PaL’ – das ist meine Abkürzung für ‘Probleme anderer Leute’.

Das hilft. Und bitte,
bleiben Sie glücklich, wünscht PHG

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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