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Vom Dämon der Unwissenheit

Sonntag, 19. November 2017, bei allerlei Klaviermusike
Wo warst du, als ich
die Erde gründete?
Hiob 38, 4.7

In Terrence Malicks Film “The Tree of Life” – diesem grandiosen Drama eines Vaters bzw. Sohnes, ach es ist natürlich beider Drama – heißt es, dass es zwei Wege durch das Leben gibt. Den Weg der Natur und den Weg der Gnade. Als ich jung war, wäre ich vermutlich davon ausgegangen, dass man sich entscheiden müsste, welchen davon man wählt. Heute weiß ich, dass die Menschen stets beide Wege gehen, mal hier einen Schritt auf dem einen, dann einen auf dem anderen. Und wenn sie gerade mal wieder auf dem Weg der Gnade sind, dann trachten sie, ihn möglichst schnell zu verlassen. Denn die Gnade, auch das erzählt Malicks Film, ist uneigennützig. Sie nimmt es hin, vernachlässigt, vergessen und abgelehnt zu werden. Sie nimmt Beleidigungen und Verletzungen hin. Wer will schon diesen Weg gehen.

Ach, wie komme ich darauf eigentlich. Vielleicht weil heute Volkstrauertag ist. Wissen Sie das? Und wissen Sie warum, bzw. um was oder wen da getrauert werden soll? Die meisten Menschen wissen es nicht. Getrauert wird oder soll werden um die Kriegstoten. Er ist, nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland ins Leben gerufen, heute aktueller denn je, weltweit. Und ich würde gern hinzufügen, dass man eigentlich nicht nur der Toten gedenken sollte, sondern vor allem auch den Überlebenden all der Kriege des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts.

Wie notwendig dies ist, habe ich an meinen Eltern erlebt. Mein Vater entkam 1945, kurz bevor er dort zu Tode geprügelt wurde, einem Gefangenenlager. Als er vor zehn Jahren starb, hat er im Koma den Krieg nochmal gekämpft. Bei Kriegsende war er gerade mal 17 und ein halbes Jahr alt. Er starb mit über 80 Jahren, aber nichts war vergangen. Meine Mutter, die jetzt zu Dezemberbeginn zwei Jahre tot sein wird, glaubte, als sie in den Wochen vor ihrem Tod nochmal ins Krankenhaus musste, das sie im Konzentrationslager sei. Sie flehte mich an, die Polizei zu rufen, um sie dort heraus zu holen und beschuldigte das Krankenhauspersonal, medizinische Experimente an ihr zu betreiben. Man habe ihr Stromkabel an die Gebärmutter angeschlossen, sagte sie zu mir.

Nun, das ist jetzt vorbei. Die ganze Generation stirbt aus, in spätestens zehn Jahren wird niemand davon mehr leben. Und wenn dann auch ich tot bin, so wird die Generation meiner Kinder – vom Dämon der Unwissenheit beherrscht – unter sich sein und den zweiten Weg, den Weg der Natur gehen. Wie der aussieht, das werde ich Ihnen nicht erzählen. Man kann es ja problemlos herausfinden, wenn man Malicks Film anschaut oder, noch einfacher, die Augen mal vom Handy abwendet und in die Welt blickt.

Meine Stimmung ist heute, dem Wetter und dem Tag angemessen, etwas grau.

Bleiben Sie trotzdem glücklich
Wünscht Ihnen Ihr PHG

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Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker