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Die Unabwendbarkeit des Heimwegs

Sonntag, 17. Oktober 2021, bei Verdis ‘I vespri siciliani’ mit der Callas, unter Erich Kleiber

Die Blätter werden gelb, trotz der immer wieder durchbrechenden Sonne ist es zu kühl, um länger draußen zu sitzen. Der wilde Kirschbaum ist in diesem Jahr über zwei Meter gewachsen, er ragt jetzt so weit über die Krone der Gartenmauer, dass ich mich immer mal wieder bei der Angst ertappe, es könne ihn jemand von der Straßenseite her mutwillig beschädigen; Angst um einen Baum, den wir nicht einmal selbst gepflanzt haben.

Mein neues Buch “Kein Jahr der Liebe” kommt mir ebenfalls wie solch ein wild gewachsener Baum vor. Wild gewachsen deshalb, weil es kein geplantes Buch war. Ich hatte es 1989 in Rom geschrieben, während einer für mich sehr schlimmen Zeit, die mir beinahe mein ganzes Schriftstellersein vernichtet hat. Und damit mein Leben. Tägliche Notizen, um den Kopf über Wasser zu halten. Notate des Untergangs, die ich eine Zeit hindurch sogar als ein Protokoll meiner “Auslöschung” bezeichnet habe. Und dann, als ich aus Rom zurückkehrte und erleben musste, dass ich tatsächlich für über 20 Jahre ausgelöscht war, da blieb dieses Manuskript für Jahrzehnte irgendwo in den Tiefen wechselnder Festplatten verschwunden. Es ließ sich auch gar nicht mehr öffnen, da es in einer Textbearbeitung abgefasst war, die niemand mehr kannte.

Es blieb ein verschollenes Manuskript, bis 2019 alle Welt dabei war, sich auf die Dreißigjahrfeier der Deutschen Wende vorzubereiten, und ich dachte, ja, verdammt, vor 30 Jahren hat auch für Dich die Wende deines Lebens stattgefunden. Gab es da nicht etwas, das die Vorereignisse dieser Wende dokumentiert? Ich suchte, fand und brauchte fast eine Woche, bis ich das alte Manuskript wieder lesbar gemacht hatte. Ja, und dann, dann wurde ich krank, ein Schlaganfall, den ich erst mal überleben musste, was ich auch tat. Aber an eine Veröffentlichung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Das Wendejahr verstrich, und es hat bis heute gedauert, aber nun wird es in diesem Jahr noch erscheinen. Auch das Cover, zu dem der großartige Maler Ludwig Drahosch eine Zeichnung als Bildvorlage beigesteuert hat, ist beinahe fertig.

Verändert gegenüber dem Manuskript von 1989 ist das Buch nur insofern, als ich erstens ein Vor- und ein Nachwort beigesteuert habe, weil vieles ohne eine solche Hinleitung für heutige Leser nicht mehr unmittelbar verständlich sein dürfte. Und zweitens habe ich die Texte meiner Zeitungsartikel, Interviews und Rundfunksendungen in den Text integriert, die ich während meines römischen Jahres produziert habe; man kann also jetzt die Ergebnisse meiner Arbeit, von der ich in den Aufzeichnungen meist nur knappe Notizen angefertigt habe, direkt sehen.

Dass ich auch Schreibfehler überprüfen musste, dazu Namen von Personen und Orten durchzugehen hatte etc. versteht sich vermutlich bei solch einer Arbeit von selbst. Ansonsten ist der ursprüngliche Text aber unverändert belassen worden, inklusive der alten Rechtschreibung. Ich habe mich nicht berechtigt gefühlt, den Text inhaltlich zu verändern, auch dort nicht, wo es besonders schmerzhaft war.

Ansonsten gilt das, was Johannes Klett in der Vorbemerkung zu meinem ersten Roman “Seelenlähmung” schrieb: “Sollten sich lebende Personen in den Figuren des Buches wiedererkennen (und ihnen dies nicht zum Vorteil gereichen), gebe ich ihnen zu bedenken, dass sie nur unter einem Buch leiden, ich hingegen unter ihrem Leben gelitten habe. Wenn dem nicht so wäre, hätte dieses Buch nicht geschrieben werden müssen.”

Und nun leben Sie für heute wohl
und bleiben Sie glücklich, wünscht PHG

PS: Die Unabwendbarkeit des Heimwegs habe ich diesen Beitrag genannt. Das meint, dass wir immer versuchen, egal, was wir machen, nach Hause zu kommen. Dieses Buch, über dessen Entstehung ich Ihnen etwas berichtet habe, ist für mich einer meiner Versuche auf diesem ewigen Heimweg.

Peter H. E. Gogolin: Erzähler, Roman-Autor, Stücke- und Drehbuchschreiber, Lyriker

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